• Kultur
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Erkenne die Lage

Die Essays des bekennenden Bildungsbürgers Gustav Seibt helfen, sich in komplizierten Zeiten besser zu orientieren

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 6 Min.
Wer von einem geistigen Hochsitz aus auf die Welt blickt, meidet die Nöte und die Bedürftigkeit derer da unten.
Wer von einem geistigen Hochsitz aus auf die Welt blickt, meidet die Nöte und die Bedürftigkeit derer da unten.

Gustav Seibt hat seine verstreut erschienenen Zeitungsessays aus den letzten 20 Jahren in einem Buch versammelt. Damit führt er Auseinandersetzungen und Krisen der jüngeren Geschichte den Lesern so vor Augen, dass sich der Blick mit jeder Seite schärft. Beispielsweise setzt sich einer der Texte in diesem Buch, das er »In außerordentlichen Zeiten« betitelt hat, mit jener in der hiesigen Publizistik öfters vernehmbaren These auseinander, nach der die islamische Welt zurückgeblieben sei, Aufklärung und Revolution noch vor sich habe. Diese Art des Denkens macht den Weg des Westens in die Moderne, so Seibt, unzulässigerweise zur Norm gesellschaftlicher Entwicklung. Zudem setzt sie an die Stelle umfassender und konkreter Analysen immer wieder Phantasien wie die, dass allein ein Regime-Wechsel im Irak hinreichen würde, um dort die Demokratie zu etablieren – mit den bekannten bis heute fatalen Folgen.

An anderer Stelle erzählt der Autor vom Werdegang Cem Özdemirs, der es als Sohn türkischer Einwanderer geschafft hat, zum bundesdeutschen Spitzenpolitiker aufzusteigen. Dafür, dass dies eine der noch viel zu seltenen erfolgreichen deutsch-türkischen Biografien ist, macht Seibt nicht den mangelnden Integrationswillen türkischer Einwanderer, sondern die über Jahrzehnte gruselige Gleichgültigkeit auf deutscher Seite verantwortlich. Als Beweis, wie Integration von Einwandernden diesem Land zugutekommt, zieht Seibt die Geschichte heran. Die französischen Hugenotten, die ab 1685 nach Preußen kamen, und die Juden, welche 1871 endlich ihre volle Gleichstellung erreichten, trugen zu ökonomischen wie kulturellen Blüten Deutschlands entscheidend bei.

All dies ist von jemandem zu Papier gebracht worden, der bei verschiedenen Gelegenheiten ausdrücklich betont hat, ein Bürgerlicher zu sein, und der dieser Einstellung einen zeitgemäßen geistigen Gehalt zu geben versucht. Gustav Seibt gehört – wie ein Rainald Goetz oder ein Diederich Diederichsen – der um 1960 geborenen Generation von Intellektuellen an, fand aber seine Leitbilder weder bei der linken Frankfurter Schule noch bei den französischen Strukturalisten noch in der Popkultur. Vielmehr begeistert ihn jemand wie Rudolf Borchardt, ein 1877 geborener, nach 1945 nahezu vergessener Schriftsteller, der die Moderne und die Weimarer Republik verachtete und die NSDAP 1932 als die stärkste und hoffnungsvollste deutsche Partei ansah und dann unter Hitler nicht mehr veröffentlichen durfte.

Indes hat Seibt in einigen Aufsätzen die faszinierenden Züge von Borchardts Werk aufgezeigt. Etwa, dass dieser Mann gegen Ende seines Lebens die Vermischung der Völker als wesentliches Element von – großer – Kultur feierte; und damit etwas, das extremen Rechten stets ein Dorn im Auge ist. Seibt legt die Widersprüchlichkeiten und eklatanten politischen Fehldiagnosen seines Helden schonungslos offen und hält gleichwohl an der Bewunderung für ihn fest. Diese ruft vor allem dessen große Bildung hervor, Borchardts weit in die Vergangenheit zurückreichender geistiger Horizont.

Dies vor Augen, liest man jene Buchessays mit besonderer Spannung, in denen Seibt zum Beispiel angesichts des von den britischen Tories herbeigeführten Brexits fragt, was heutzutage wohl zu einer konservativen Einstellung dazugehören mag. Der Konservative, meint Seibt, erkennt gesellschaftlichen Wandel durchaus an, der Reaktionär dagegen hält ihn für ein Verbrechen. »Konservativ ist der Impuls, Migration zu steuern, zu dosieren, verträglich zu machen, ohne die Erfahrung unentwegter Wanderung zu leugnen; reaktionär-revolutionär wäre das Programm, seit Langem eingesessene Einwanderer wieder in ihre längst aufgegebenen ›Ursprungsländer‹ zurückzuschicken im Namen einer phantasmagorischen Idee von völkischer Reinheit.«

Bezüglich der AfD notiert Seibt, entgegen ihrer eigenen Imagepflege handele es sich bei ihr keineswegs um eine bürgerliche Partei. Denn stets stellen AfD-Vertreter – völkische – Kollektive über das selbstständig reflektierende Individuum, das die Denker der Aufklärung als wesentliche Voraussetzung der freiheitlich demokratischen Gesellschaft erkannt haben. Und auch FDP-Politiker von heute, die sich ja zuweilen demonstrativ mit traditionellen bürgerlichen Stil-Accessoires schmücken, sind in Seibts Augen nicht wirklich bürgerlich. Und zwar aus dem Grund, weil sie jeden Gedanken ans Gemeinwohl zugunsten eines hemmungslos egoistischen »Ich-will-Liberalismus« aufs Altenteil abgeschoben haben.

Es ist ein großer Vorzug von Seibts Buch, dass sein Autor sich zu seinem Bildungsbürgertum bekennt und infolgedessen andere intellektuelle Vorlieben als viele seiner schreibenden Generationsgenossen pflegt. Bei Seibt findet sich nämlich das, was unserer kurzatmigen Popkultur abgeht: umfassende historische Bildung. Ob es sich um das Thema Einwanderung, um die hiesige Erinnerungs- und Gedenkkultur oder um unser Verhältnis zu Russland dreht – Seibts umfassende Bildung ist das Mittel, mit dem er sichtbar macht, was wir Heutigen mit vergangenen Konflikten zu schaffen, welche Krisen zur Entwicklung welcher gesellschaftlichen Institutionen geführt haben. All die grausamen Kapitel der europäischen Geschichte machen diesen Autor übrigens zum vehementen Fürsprecher des demokratischen Rechts- und des Sozialstaats, heißt: der Bundesrepublik Deutschland, wie sie ist.

Dass wir im Kapitalismus existieren, erwähnt Seibt kurz in dem Essay über den Franzosen Didier Eribon. Dass die Politik allerorten von kapitalistischem Denken geprägt ist, die Gegensätze zwischen Überreichtum und schierer Armut sich deswegen handgreiflich zuspitzen und dies auch politische Folgen hat, ist Seibt ansonsten kaum eine Erwähnung wert. Auch nicht der Umstand, dass es doch bürgerliche Menschen gewesen sind, die im Jahre 1848 erstmals eine deutsche Republik gründen wollten. Bürgerliche Menschen, die nicht nur die Forderung der Rechtsgleichheit aller Menschen erhoben, sondern auch die nach der Gleichheit der Lebenschancen – und dass der bundesrepublikanische Staat die Verwirklichung eben dieser festgeschriebenen sozialen Gleichheitsrechte auf mithin schreiend skandalöse Weise verabsäumt.

Dass Gustav Seibt die ernsthafte Konfrontation mit derlei Themen meidet, liegt nicht an einem mangelhaften Sensorium für Benachteiligte. Was seine einfühlsamen Sätze über Schicksale und Leiden von Homosexuellen in der deutschen Geschichte belegen. Vermutlich ist die Ursache für Seibts Ausblendung von Klassenverhältnissen und deren politische Konsequenzen der von ihm in einem älteren Buch einmal beschworene »Zauber des seitlich daran vorbei Gehens«. Soll heißen: Er, der von seinem geistigen Hochsitz aus auf die Welt blickt, meidet die Menge, die allzu lauten, allzu profanen Vergnügungs- und Artikulationsformen, die Nöte und die Bedürftigkeit derer da unten.

Das Resultat dieser Einstellung ist freilich, dass Seibts Buch, welches die derzeitige politische Situation zu erhellen verspricht, faktisch substanzielle Mängel aufweist. Geraten scheint, mit Seibt so umzugehen wie dieser mit Rudolf Borchardt: Sein Werk wegen des weiten geistigen Horizonts seines Autors weiterempfehlen und zugleich das, woran es seinen Diagnosen mangelt sowie seinen elitären Dünkel offenlegen.

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