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Gefängnisse in Mexiko: Wenn Engel mit Teufeln kämpfen
Ein Gesprächskreis sorgt für Hoffnungsschimmer in einem mexikanischen Gefängnis
Gewalt. Werte. Vergebung: Schwere Begriffe, die den 25 Männern in dem Gesprächskreis leicht über die Lippen kommen. Sie alle sind Gefangene in einem Gefängnis im Süden von Mexiko-Stadt. Noah* möchte über Reintegration in die Gesellschaft sprechen. Es gibt viel Redebedarf. Mit seinem Gesicht und seiner Art wirkt er eher wie ein Buchhändler oder Lehrer. Seine Armauflage ziert ein fein säuberlich abgerissenes Blatt Papier, das mehrere Absätze Text zeigt, einige sind mit neongelber Farbe markiert. Bibelverse? Nein, lacht Noah, es sei das Stück »Ingrata« der Rockband Café Tacuba. Die waren einst die Rolling Stones Mexikos. Heute hört man sie, um in Nostalgie zu schwelgen. Er werde das Stück später pantomimisch performen, erklärt er. Jetzt steht erst mal eine Diskussion auf dem Programm.
»Was bedeutet Freiheit für euch?«, fragt Juan Pablo Ortiz Monasterio in die Runde. Er legt gleich den Finger in die Wunde. Einige haben sehr genaue Vorstellungen, andere geben nur vage Setzkasten-Antworten. Aber die Frage bringt Bewegung in die vielen leeren Gesichter.
Ortiz ist Gründer der sozialen Organisation 3D Education. Er hat viele Jahre in China gewohnt, war Reiseveranstalter und kritisiert das mexikanische Bildungssystem: »Es bildet nicht«, sagt er schlicht. Selbstständig denkende Menschen, die sich in ihrer Ganzheit entfalten, würden nicht ausgebildet, sondern das System ziele nur darauf ab, dass Menschen eine entsprechende Rolle in der Marktwirtschaft einnehmen könnten. Seit fünf Jahren veranstaltet er mit seiner Organisation regelmäßig Dialoge über philosophische Themen in diesem Gefängnis im Viertel Iztapalapa. Zwei Jahre musste er wegen der Pandemie pausieren.
Es ist die einzige Haftanstalt landesweit, die einen solchen Austausch zulässt. Diskutiert wird jedoch nicht über Details von Wittgensteins »Tractatus«, sondern eher über das, was die Inhaftierten beschäftigt: Wenn ihr eine Person kennenlernen könntet, wer wäre das? Wie können wir vergeben? Wie ist richtiger Wandel möglich?
Weil der Andrang für den Gesprächskreis unerwartet groß ist, musste die Gruppe in einen größeren Raum umziehen, der aussieht wie ein Klassenzimmer: schwarze Tafel mit Holzrahmen, große Fenster, Metallstühle mit Armauflage, die, wenn sie gerückt werden, schrill quietschen. Der misogyne Sound aus Tijuana von Grupo Firme plärrt aus schlecht abgemischten Lautsprechern, es wuselt auf den Gängen. Ein 21-Jähriger sitzt still und hört zu. Er hat einen bunten Zauberwürfel in der Hand, versucht aber nicht, das Rätsel zu knacken.
Die Haftanstalt beherbergt viele Schwerkriminelle: Mörder, Entführer, Erpresser, Vergewaltiger. 3D Education organisiert auch für sie die Gesprächsrunde; alle Insassen sind willkommen. Für Noah wird der Austausch das Highlight der Woche sein, vielleicht des ganzen Monats. Denn der Knastalltag ist eintönig, er wird durch Arbeit in den verschiedenen Abteilungen der Anstalt bestimmt. Die Insassen müssen auch hier Geld verdienen, denn korrupte Aufseher*innen kassieren für alles ab, selbst für die Besuche von Angehörigen, die eigentlich nichts kosten. In dieser Hinsicht ähnelt das Leben drinnen sehr dem Leben draußen: Die, die Geld haben, leben bequemer und können sich Privilegien wie Fernseher und Telefone bei korrupten Wächter*innen kaufen, während die, die arm sind, kaum Handlungsspielraum haben. Zudem wird nahezu jeder Knast von kriminellen Gruppierungen geleitet, denen sich jeder Insasse unterordnen muss, da sie beispielsweise den Drogenfluss im Gefängnis oft zusammen mit korrupten Behörden kontrollieren.
Alejandro* hat ein spitzes Kinn und einen kahlen Kopf, er ringt sich zu einer Antwort auf die Freiheitsfrage durch – doch er schickt voraus, dass es vielleicht nicht das sei, was manche hören wollen. »Der Gedanke an Freiheit lässt mich nicht frei fühlen«, sagt er mit leblosem Blick, »denn ich bin ohnehin schon gefangen, in meinen Süchten, meinen Gedanken.« Er senkt den Kopf wieder, bearbeitet mit einem spitzen Gegenstand eine Figur aus weißer Seife. Es sieht nach einem religiösen, mythischen Motiv aus: Ein Engel, verkrampft mit einer Teufelsfigur kämpfend.
Alejandro, der Seifenkünstler, er sitzt und läuft zugedröhnt durch die Gänge, wie viele hier. Anders lässt es sich wohl kaum aushalten. Eine Betriebsärztin, die nicht genannt werden möchte, kennt die Realität der Insassen: »Von rund 5000 Häftlingen hier sind etwa 4500 abhängig. Das bedeutet also, dass die Mengen an Drogen, die hier reinkommen, nicht nur durch Angehörige reingeschmuggelt werden können. Die Drogen kommen durch die Hauptpforte.« Oft werde sie von Häftlingen um Packungen mit Paracetamol, Ibuprofen und ähnliches angebettelt – um diese pillenweise an andere Häftlinge weiterzuverkaufen. »Es ist alles ein Geschäft da drinnen.«
Noah erzählt, er sitze schon seit zweieinhalb Jahren ein. Diebstahl von Autoteilen. Knapp über ein Jahr habe er noch vor sich. »Das Gefühl, seiner Freiheit beraubt zu werden«, daran denke er ständig, das gehe ihm einfach nicht aus dem Kopf. Der 47-Jährige ist höflich und interessiert, er wirkt, als sei er aus Versehen hier. Stille, leere Blicke. Alleine die Anwesenheit der Journalisten von draußen schafft eine unangenehme Situation. Häftling Adrian* geht offensiv damit um und stellt Fragen wie: »Was ging bei euch im Kopf vor, bevor ihr ins Gefängnis gekommen seid? Wie habt ihr euch die Menschen und den Ort vorgestellt?«
Ortiz trägt einen gepflegten Bart und wirkt konzentriert. Er war schon Hunderte Male in der Haftanstalt. Er sieht sich als Moderator und Vermittler zwischen der Außenwelt und den beengten Mauern. Einmal, erzählt er, habe er einen Insassen gehabt, der nach einer Schießerei ins Gefängnis musste. Durch einen Kopfschuss verlor er bei der Auseinandersetzung das Augenlicht. Trotz Haftstrafe sah der Mann den Knast also nie von innen. Also stellte er sich das Innere einfach als wunderschönen Blumengarten vor – und die Menschen als große, freundliche Bäume. Ortiz erzählt solche Geschichten gerne. Noch nie habe er »so viel Talent gesehen wie hier.« Er versucht, die Insassen aufzumuntern und Hoffnung zu verbreiten.
Nach draußen geht es wieder durch den unterirdischen Tunnel, der beklemmend wirkt. Vor dem Gebäudekomplex verläuft eine endlos wirkende schmale Straße mit Taco-Ständen, Frauen verkaufen Kaugummipackungen und einzelne Zigaretten. Es ist die Normalität der Megastadt: Das rhythmische Schreien der Händler*innen mischt sich mit dem Straßenlärm, Musik dudelt, die Vögel müssen lauter zwitschern. Hier im Bezirk Iztapalapa, in dem mehr Einwohner*innen als in Hamburg oder München leben, grassieren Gewalt, Unsicherheit und Angst.
So sehr sich die Häftlinge auch auf die Entlassung freuen mögen, vielen fällt ein Neuanfang schwer. Das Leben nach einem Gefängnisaufenthalt ist nämlich eine Herausforderung. Für sie ist es nicht leicht, einen Job zu finden. Eine Lücke im Lebenslauf bringt ehemalige Häftlinge sofort in Erklärungsnot. Auch in Mexiko existiert ein Vorstrafenregister. Will ein Unternehmen ein solches sehen, wird die Bewerbung mit ziemlicher Sicherheit abgelehnt.
Für Saskia Niño de Rivera, Mitgründerin der renommierten Nichtregierungsorganisation Reinserta, fällt noch ein weiterer Aspekt ins Gewicht: »Die Stigmatisierung ist das größte Problem für Ex-Häftlinge.« Sie würden in den Gefängnissen nicht auf eine soziale Wiedereingliederung vorbereitet. Resozialisierung sei »eine Utopie«. Das deckt sich mit den Erzählungen der Insassen im Gefängnis im Süden der Hauptstadt.
Man sieht den Männern die Furcht an – nicht vor der Realität, die sie gerade erleben, sondern Angst vor der Zeit danach und dem Scheitern. Noah* erzählt, er denke viel an seine Familie. Zwei Kinder habe er, einen Sohn und eine Tochter. Dann schweift er wieder ab. Als Heavy-Metal-Fan gefielen ihm die Werke von Edgar Allan Poe, sagt er in einem Anflug an Begeisterung. Die gäbe es aber leider nicht in der Knast-Bibliothek.
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