• Kultur
  • Essenstrends im Internet

Girl Dinner: Warum werden auf einmal Mahlzeiten gegendert?

Food for Thought (Teil 11): Essen und das Internet, eine wundersame Kombi

  • Julia Belzig
  • Lesedauer: 4 Min.
Bloß nicht zu viel Zeit am Herd verbringen: Mit dem Girl Dinner wird eine Art Charcuterie-Board zusammengestellt
Bloß nicht zu viel Zeit am Herd verbringen: Mit dem Girl Dinner wird eine Art Charcuterie-Board zusammengestellt

Kulinarik hat schon immer als Spiegelbild der Gesellschaft gedient. Mit Speis und Trank lassen sich Geschichten erzählen, sie sind Kulturgut, tragen Erinnerungen und sind kollektives Erbe, von Generation zu Generation weitergetragen. Man denke nur an den Stolz der Italiener*innen über ihre Küche. Auch in der Popkultur hat Essen einen extrem hohen Stellenwert und ist eine Ausdrucksform dessen geworden, man denke allein an die Symbolkraft der mittlerweile kultigen Toast Hawaii oder Mettigel der 70er.

Im Digitalen wurde Essen als kollektive Erfahrung völlig neu definiert. Das Internet lässt Foodtrends eine völlig intensivierte Dimension erreichen. Milliarden von Zuschauer*innen wird der beste Platz in der ersten Reihe ermöglicht, in diesem Sammelbecken an Skurrilitäten. Da gibt es nicht nur völlig unaufgeregte Kochtutorials oder Foodhauls. Gerade auf Tiktok finden sich absurde Trends: wie beispielsweise unter dem Hashtag Mukbang, unter dem sich Influencer*innen dabei filmen, wie sie übergroße Mengen an Essen vor der Kamera verdrücken. Es gibt auch immer wieder spezielle Gerichte, die den Durchbruch auf vielen sozialen Plattformen schaffen. So backen dann phasenweise alle internetaffinen Menschen synchron Bananenbrot, kochen kollektiv Baked Feta Pasta oder shaken ihren Espresso Martini. Der gemeinsame Nenner ist eigentlich immer das Performative. Wir reden hier schließlich über das Internet. Ein essenzieller Aspekt eines jeden Trends ist die Präsentation des Produkts. Das Auge isst schließlich mit.

Für den auditiven Typ hat das Online-Universum natürlich auch etwas parat. Seit den 2010ern geistert das ASMR-Phänomen durch die virtuellen Korridore. Dabei filmen sich Menschen dabei, wie sie in ein Mikrophon flüstern oder andere entspannende Geräusche aufnehmen, etwa Klopf- oder Streichgeräusche oder das Ploppen von Luftpolsterfolie. Für die Foodies wird ASMR-Essen so übersetzt, dass ins Mikrofon geschmatzt, gekaut und geschlürft wird. Besonders beliebt sind Soundeffekte wie der Biss in eine saure Gurke oder das Knuspern von Chips. Viele Menschen beschreiben das Gefühl wie eine Art Massage fürs Gehirn. Kein Wunder, dass ASMR der am dritthäufigsten gesuchte Begriff bei Youtube ist.

Der neuste Trend, der momentan durch das World Wide Web geistert, ist das sogenannte Girl Dinner, mit mittlerweile 224 Millionen Aufrufen auf Tiktok. Das Label scheint hip, beinhaltet aber eine altbekannte Idee: das Abendbrot. Durchaus ästhetisch wird mit dem Girl Dinner eine Art Charcuterie-Board zusammengestellt. Im Prinzip drapieren die Partizipierenden ihre Käse- und/oder Wurstscheiben, saure Gürkchen, Oliven, Brot und vielleicht ein paar Weintrauben hübsch auf einer Unterlage, ganz nach dem Motto: essen, was gerade da ist. Bloß nicht zu viel Zeit am Herd verbringen. Das Ganze wird dann in einem kurzen Clip für Tiktok gefilmt und mit einem Girl-Dinner-Jingle unterlegt.

Im Gegensatz zur Brotzeit versucht das Girl Dinner eine Menge mehr zu sein: nämlich feministisch. Zum einen geht es der Quasi-Erfinderin Olivia Maher um die »feminine Erfahrung«, das Zelebrieren einer ästhetisch zubereiteten Mahlzeit. Definiert werde das Konzept trotzdem unabhängig vom Geschlecht der essenden Person, so Maher.

[embed url=»https://www.tiktok.com/@liviemaher/video/7232130214506057003?_r=1&_t=8fUYOvLtfvs«]

So kann in ihren Augen dieses Abendessen durchaus als eine Art Abwehr starrer binärer Geschlechterrollen gesehen werden, in denen traditionell die Frau ihrem Partner ein deftiges, aufwendiges Essen zubereitet. Es wird keine unbezahlte Care-Arbeit für andere aufgebracht. Denn im Gegensatz zum Abendbrot ist Girl Dinner in der Definition etwas, was man alleine macht. Viele verstehen es auch als ein Ritual der Selbstliebe. Einigen mag es absurd vorkommen, einer Brotzeit derart das Selfcare-Label aufzuklatschen. Aber in der Internetblase funktioniert’s.

Dennoch stellt sich die unausweichliche Frage, warum auf einmal Mahlzeiten gegendert werden. Das Internet wäre auch nicht das Internet, wenn es nicht schon längst einen Gegentrend parat hätte: das Boy Dinner. Er versinkt halb ironisch in Geschlechterklischees, teilnehmende Männer porträtieren sich als wilde Karnivoren. Denn als Gegenentwurf zum Girl Dinner ist das Boy Dinner kaum kuratiert, es geht augenscheinlich nur um die stumpfe Kalorienaufnahme. Auf den Teller kommt so ziemlich genau das, was man sich stereotyp bei einem computerspielenden Teenager vorstellt: die berühmte Tiefkühlpizza, viel Fleisch, kein Gemüse. Es wird genauso mit Klischees gespielt, wie sie auch reproduziert werden. Doch im Hinblick auf das langweilende, auserzählte Narrativ »Boys vs Girls« waren wir doch eigentlich schon mal weiter.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal