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Strandbad Plötzensee: Die Gedanken schwimmen im dunklen Wasser
Über Wasser: Wie ein Niederländer die Weddinger Idylle bewahrt
An einem der letzten Sommer-Ferientage laufe ich im Berliner Wedding unter dem Hochbahngewirr an der Perleberger Brücke hindurch das Nordufer entlang. Zwei Schwäne fliegen ein Stück mit mir, Wolken ziehen auf. Melancholie beschleicht mich, ein streitbarer früherer Kulturkomplize liegt mit fataler Diagnose im Krankenhaus und der Kanal kommt in Sicht, an dem sich vor zehn Jahren Wolfgang Herrndorf erschoss.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
In Wurfweite entfernt liegt das Freibad Plötzensee am Westufer eines langgestreckten Eiszeit-Wasserlochs, der Volkspark Rehberge mit seiner wilden Badestelle und mehrere Friedhöfe gegenüber. Vor einem Jahrhundert kamen bis zu 40 000 Badegäste täglich, heute bietet das weitläufige Bad nach mehrjähriger Vernachlässigung wieder Liegewiesen, Sandstrand, vier 50-Meter-Bahnen, eine FKK-Abteilung, Rutsche, Stand-Up-Paddeln und Erlebnis-Parcours, ab nachmittags läuft Musik, ein Freigetränk ist im Eintritt inklusive.
Herrndorf liebte den Plötzensee, der im Volksmund des Kaiserreiches und der Weimarer Republik »Totes Meer« genannt wurde, weil so viele Menschen in ihm ertranken, zehn allein 1920. In den letzten Jahren waren es zwei bis drei Tote, meist alkoholisierte Männer, die nachts vom Park aus schwimmen gingen, erzählt der Pächter Michel Verhoeven in einer Folge des wunderbaren Berliner Schwimm-Podcasts Chlorgesänge. Seit 2019 saniert der gebürtige Niederländer, der in einem Wohnwagen auf dem Gelände lebt, mit seinem wachsenden Team das Freibad. Seine Vision zum 100. Geburtstag 2026 ist eine kostenlose Nutzung des Strandbades – finanziert über Feste zum Anbaden und Abbaden. Bis dahin wird das denkmalgeschützte Backsteingebäude mit seinen gedrehten Säulen, Türmen und der riesigen Freitreppe restauriert. Noch strahlt vieles rumpligen Charme aus. Oben an der Treppe schlummert ein ausrangiertes Klavier, die Uhren stehen still. Die Umkleiden stammen aus den 1950ern, auf einem Wandbild schreitet ein Paar Hand in Hand auf ein Meer zu.
Ich wate ins kühle, dunkle Wasser und staune über die dicht bewachsenen Ufer. Es riecht modrig, ein Schwan zieht am Steg der Nudisten entlang. Zwei Handvoll Schwimmer*innen durchkreuzen den See, am Strand tummeln sich ein paar Dutzend Gäste, vom Park aus klettert ein Mann über die Absperrung und springt in den See. Eine Nebelkrähe schreit und fliegt an den dunkelbraunen Klinkertürmen vorbei auf den toten Baum an der Strandbar, setzt sich auf die abgesägte höchste Astspitze und streckt den Körper während sie krächzt. Ich tauche den Kopf ein, schwimme Brust, längs über den See, immer die Leine entlang. Ich kann meine Finger sehen, nach unten wird es trübe, die ausgestreckten Beine verschwimmen in einem dunkelgrünen Pixelbild.
Ich denke ans Sterben. Wäre es eine Option, ins Meer hinauszuschwimmen? Was ist, wenn man es sich anders überlegt? Wie mag es sein, unterzugehen in einem solch dunklen Grün? Obwohl ich weiß, dass hier täglich die Wasserqualität kontrolliert wird, macht mich der Schwebeteilchentanz nervös. Ich breche ab. Zu Hause weiche ich meinen Badeanzug ein und bin traurig, als das grüne Seewasser in meinen Abfluss gurgelt.
Zwei Nächte später träume ich, dass mich mein alter Wegbegleiter an einem Strand trifft – jung, bartlos, lachend. Er weist auf ein flaches Meer, aus dem Stalagmiten wachsen. Die See schimmert türkis und hellbraun, in ihm stecken verschieden große, mal gerade, mal schiefe Säulen. Wir staunen. Wenige Stunden später erfahre ich, dass Bert Papenfuß am frühen Morgen verstorben ist.
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