- Wirtschaft und Umwelt
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Ein taktvolles Vorhaben der Bahn
Das Zugfahren soll künftig schneller und komfortabler werden, doch für einen »Deutschlandtakt« fehlt die Infrastruktur
»Lasst, die Ihr einfahrt, jede Hoffnung fahren!«, scherzt der Bahn-Mitarbeiter im Bordbistro des ICE von Frankfurt nach München, als der Zug auf einem Abstellgleis vor Ingolstadt geparkt wird. Die Reisenden bearbeiten ihre Handys, sagen Termine ab oder verschieben sie. Viele sind resigniert, aber die Stimmung ist dennoch gelöst. In der Nacht zuvor ist ein Sturm über Bayern gefegt. Noch immer brechen Äste ab, kippen Bäume um und landen auf den Gleisanlagen. Die Folge: Es gibt Staus, Züge stehen Stunden lang auf dem Abstellgleis. Für viele Fahrgäste ist das eine Ausnahmesituation, bei der Bahn gehört das aber zum Alltag.
Schon seit Langem steht sie wegen ihrer Unpünktlichkeit in der Kritik: Im August schafften es nur 63,4 Prozent der Fernverkehrszüge planmäßig oder bis zu fünf Minuten später ans Ziel. Insgesamt 81,4 Prozent kamen bis zu 15 Minuten später an. Die Bahn nennt das immer noch pünktlich. Die Reisenden finden das jedoch oft ärgerlich. Denn selbst wenn man nicht irgendwo zu sein hat: In Sommerhitze oder Winterkälte längere Zeit auf den Anschlusszug warten zu müssen, macht keinen Spaß.
Wie kann das sein, dass die Bahn so unpünktlich ist? Andreas Scheuer (CSU) hatte doch zu seiner Zeit als Bundesverkehrsminister Abhilfe versprochen und rief ein »Zukunftsbündnis Schiene« aus, einen »Deutschlandtakt«, mit dem »alle einfacher, schneller und bequemer ans Ziel« kommen. Scheuer schied 2021 aus dem Amt. Heute, wenige Jahre später, ist von den vollmundigen Ankündigungen nahezu nichts übrig geblieben. Der »Deutschlandtakt« werde erst 2070 fertig, meldeten die Medien vor einigen Monaten, und einige rechneten vor: 47 Jahre werde es dauern, bis die Züge endlich pünktlich ans Ziel kommen werden.
Es hat viele Gespräche für die Recherche gebraucht, um das komplizierte Konzept, das hinter dem »Deutschlandtakt« steht, so zu verstehen, dass ich es verständlich erklären kann. Am Ende stehen drei Erkenntnisse: Der D-Takt kann nie fertig werden; es wäre sogar fatal, wenn man ihn für abgeschlossen erklären würde. Denn der Bau von Infrastruktur muss stets mit den gesellschaftlichen und demografischen Entwicklungen einhergehen. Niemand kann sagen, ob Berlin in 20 Jahren schrumpfen wird, ob der Hotspot der Republik sich in den Südwesten der Republik verlagert und eine Stadt wie Trier dann nicht mehr in der tiefsten Provinz liegt. Der »Deutschlandtakt« ist nichts weiter als ein Schlagwort für ein komplexes System. Und Pünktlichkeit ist die Bedingung für das Funktionieren des D-Takts, aber keine Folge.
Ziel dabei ist, alle Züge miteinander zu vertakten. Wer also mit dem ICE in München ankommt, soll sofort den Anschluss nach Salzburg oder Zürich erreichen können. Oder dorthin, wo man gerade hin will. Dafür wird zunächst ein Zielfahrplan festgelegt und auf dieser Grundlage dann anschließend geschaut, wo was gebaut oder verbessert werden sollte. Man will also nicht mehr einfach nur neue Hauptbahnhöfe wie in Stuttgart samt Schnellbahnlinie errichten und dann in den bestehenden Fahrplan integrieren, sondern macht es umgekehrt. Das bedeutet auch: Überall dort, wo Menschen umsteigen wollen, muss dafür gesorgt werden, dass die Züge pünktlich sind. Deutschlandweit. Im Ergebnis ist das ein weit verzweigtes Netz, wie man sie von den Nahverkehrsverbünden schon kennt. Nur, dass beim »Deutschlandtakt« abgelesen werden kann, wann ein Zug wo, wie oft und zu welcher Minute ankommt und abfährt.
Apropos Trier. Gerne würde man hier schneller mit der Bahn nach Frankfurt oder Köln kommen. Doch vom Hauptbahnhof fahren seit einigen Jahren nur noch Nahverkehrszüge ab, und die halten auf ihrem Weg in die Großstadt an vielen kleinen Dörfern. In Regionalbahnen braucht man stundenlang, um selbst kurze Strecken zurückzulegen, und das wird auch der »Deutschlandtakt« nicht ändern. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die versprochene Bequemlichkeit und Schnelligkeit nicht überall in der Republik erreicht werden kann.
Wie schwierig sich die Planungen gestalten, zeigt die Situation am Frankfurter Hauptbahnhof. Wer mit dem ICE aus Richtung Berlin kommt, braucht 22 Minuten für knapp 19 Bahnkilometer von Hanau nach Frankfurt; die 54 Kilometer zwischen Eisenach und Erfurt hat der ICE dagegen ebenso schnell zurückgelegt. Als im Herbst 2018 der erste Zielfahrplan vorgelegt wurde, waren die Planer*innen davon ausgegangen, dass die Situation im Rhein-Main-Gebiet noch lange so bleiben wird. Sie wurden aber eines Besseren belehrt.
Ende der 90er Jahre hatten Bahn und Verkehrspolitik den Kopfbahnhöfen den Kampf angesagt. Vielerorts gab es Pläne, den Bahnverkehr in den Untergrund zu verlegen, so auch in Frankfurt. Doch das Vorhaben scheiterte an den Kosten. 2001 verabschiedete sich die Bahn von dem Vorhaben. Bis das Bundesverkehrsministerium die Pläne für einen Fernbahntunnel 2018 wieder hervorholte –nur einen Monat nach Vorstellung des ersten Zielfahrplans. Ergebnis: Der Fahrplan musste zum ersten Mal überarbeitet werden, und aus 2030 wurde schon mal 2040, denn erst dann könne der Tunnel frühestens fertig sein. Wenn nämlich die Züge in Frankfurt, dem wohl wichtigsten Bahnknoten in Deutschland, schneller unterwegs sein werden, dann passt der »Deutschlandtakt« auf so gut wie allen Hauptstrecken nicht mehr.
Offiziell sprechen will darüber niemand; man fürchtet negative Schlagzeilen und Störgeräusche. Im persönlichen Gespräch erzählen jedoch Planer*innen und Bahn-Mitarbeiter*innen, wie schwierig der Job tatsächlich ist. Denn aus der Bahn ist in den vergangenen Jahrzehnten ein gigantischer Konzern mit Hunderten an Unternehmensbeteiligungen geworden, der sich kräftig verzettelt zu haben scheint. Gleichzeitig ist das Schienennetz vielerorts auf dem Stand der Bedürfnisse der 80er und 90er Jahre geblieben, wenig wurde in den Ausbau investiert. Stattdessen wurde gespart: Die Bahn sollte schwarze Zahlen schreiben und fit gemacht werden für einen Börsengang, der bekanntlich nie kam. Jetzt hat die Politik aber einen Paradigmenwechsel ausgerufen. Die Fahrgastzahlen sollen rauf, sich verdoppeln. ICE-Züge sollen auf den wichtigsten Strecken bestenfalls im Halbstunden-Takt fahren und das alles so schnell wie möglich. Allerdings ist das Streckennetz dafür nicht angelegt.
Was das bedeutet, zeigt sich auf dem Abstellgleis in Ingolstadt. Der Zugbegleiter hat nachgefragt: Sieben ICE würden gerade auf die Einfahrt in den Bahnhof warten, vier weitere stünden noch auf offener Strecke. Später in München erzählt der sichtlich frustrierte Lokführer, ein Mann mit Jahrzehnte langer Berufserfahrung, während einer Zigarette, dass so was eben passiere, wenn man eine Strecke mit Zügen vollpacke: »Früher hätten sich ein paar Züge vor dem Ast gestaut; es hätte aber keine anderthalb Stunden Verspätung vor Ingolstadt gegeben.« Doch an diesem Tag im Juli ereilte die Bahn offenbar ein »perfekter Sturm«: Zwischen Würzburg und Nürnberg war die Bahnstrecke komplett gesperrt. Die ICE-Züge mussten eine Umleitung fahren, die sich als Nadelöhr erwies. Und dann machten ein paar Äste auf dieser Strecke endgültig alles dicht.
Viel öfter als Unwetter sind es jedoch ausgefallene Signale, Stellwerke oder nicht funktionierende Weichen, die Züge zum Stillstand bringen. Die dann in der Summe zu jener dramatischen Zahl werden: 36,6 Prozent der Fernverkehrszüge schafften es nicht, planmäßig oder mit nur kurzer Verspätung am Zielbahnhof anzukommen. 18,6 Prozent waren nicht mal 15 Minuten später da, wo sie hingehören.
Deshalb sollen jetzt »Generalsanierungen« Abhilfe schaffen: Statt nach und nach auszubessern, während der Zugverkehr weiterläuft, sollen ganze Streckenabschnitte für Monate dicht gemacht und auf Vordermann gebracht werden. Danach seien die wichtigsten Strecken für mindestens zehn Jahre störungsfrei, verspricht die Bahn. Aber das bedeutet auch: Bevor es schneller geht, wird es erst mal langsamer.
Zum Beispiel auf der Strecke von Frankfurt in Richtung Mannheim, einer der Wichtigsten im deutschen Bahnnetz. Ab Mitte 2024, sofort nach der Fußball-Europameisterschaft, werden viele Züge über eine enge Parallelstrecke umgeleitet. Aber nicht jeder Zug soll dort entlangfahren, es wird auch zum berüchtigten Schienenersatzverkehr kommen. Fahrgastverbände befürchten das Schlimmste. Doch hinter vorgehaltener Hand gestehen auch die ein, dass damit die Verspätungen von ein paar Jahren auf ein paar Monate komprimiert werden.
Die Planer*innen des »Deutschlandtakts« gehen von einer Infrastruktur aus, die noch lange nicht da ist und vielleicht auch nie da sein wird, wo sie sein sollte. Denn in Deutschland eine Bahnstrecke zu bauen, erfordert Geduld. So plant die Bahn schon seit den Neunzigerjahren eine neue Schnellstrecke von Frankfurt nach Mannheim. Und hatte die Rechnung ohne die Darmstädter Lokalpolitik gemacht. Zuerst forderte die nämlich einen Schwenk über den Hauptbahnhof, wobei die Trasse nicht hier, nicht dort, am besten eigentlich nirgendwo verlaufen sollte. Dann wünschte man sich einen neuen Bahnhof vor der Stadt und dann doch wieder Stopps am Hauptbahnhof. Als die Planfeststellungsunterlagen fertig waren, stellten Umweltschutzverbände fest, dass für den Bau durch den Frankfurter Westwald der selten gewordene Große Eichenbock in Gefahr geraten würde. Eine Situation, mit der die Bahn nahezu täglich bei ihrer Infrastrukturplanung konfrontiert ist.
Ihre Fachleute würden den »Deutschlandtakt« deshalb lieber mit dem planen, was man schnell umsetzen kann. Und erst dann den Zielfahrplan aus der Schublade holen, wenn ein Projekt fertig wird. Aber das hieße auch: klar zu sagen, dass mancher Halb- oder Stundentakt mit der derzeitigen Infrastruktur nicht umsetzbar ist, so sehr die Politik sich das auch wünscht.
Manchmal scheitern Vorhaben auch, wie die Bahnstrecke München-Zürich zeigt. Die war schon vor der Ankündigung des D-Takts im Bau, bis man in Berlin auf die Idee kam, sie 2021 zu einer ersten umgesetzten Teilmaßnahme zu erklären, um einen Erfolg zu vermelden. Nur noch dreieinhalb Stunden in Eurocity-Neigezügen soll die Fahrt dauern. »Erlebnis Deutschlandtakt«, heißt es auf der D-Takt-Homepage. Und ein Erlebnis ist es in der Tat. Immer wieder landen die Reisenden auf dem Abstellgleis; Ende 2022 waren nur 40 Prozent der Züge einigermaßen pünktlich. Denn ein sehr langes Stück der Strecke ist weiterhin eingleisig und wird mit Zügen völlig zugestopft. Begegnen sich die Züge nicht genau zeitgleich an einem Ort namens Hergatz, kommt es zu Verspätungen. Und es zeigt sich, die sind auf dieser Strecke keine Ausnahme, wie der Ast, der an einem stürmischen Julitag auf die Oberleitung vor Ingolstadt fällt. Auf der Fahrt von München nach Zürich sind die Züge jeden Tag unpünktlich.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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