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Wie wund wir sind
Physisch oder seelisch: Die Wunde ist zum Zeichen unserer Epoche geworden
Sie klaffen immer weiter auseinander, sie wollen einfach nicht vernarben in dieser Zeit, die uns tagtäglich mit Gewalt und Zerstörung konfrontiert: die Wunden. Ob als physische oder seelische Verletzung – ihre drastischste Gegenwart zeigt sich wohl in den Bildern aus den aktuellen Kriegsgebieten. Aber auch die diversen innergesellschaftlichen und oft identitätspolitischen Grabenkämpfe, geführt aus den verfeindeten Echokammern heraus, hinterlassen Furchen, deren Heilung aussteht. Dass sie zum Motiv einer Epoche avancieren, liest sich überdies in ihrer starken Präsenz in der neueren Literatur, insbesondere der Lyrik ab. Sie operiert nicht im luftleeren Raum, vielmehr koppelt sie die verschiedenen Arten der Wunde an ihre kulturgeschichtlichen Ursprünge zurück. Archivarisches wird dadurch im Hier und Heute sichtbar.
Wunden sind geronnene Erinnerung. Schon seit den Kämpfen des Homer oder der bekannten Legende um Philoktet, der aufgrund seiner Wehklagen und des Gestanks seiner Versehrungen von all seinen Begleitern verlassen worden sein soll, hinterlässt sie ihre Träger als lebendige Mahnmale. Sie kann ein Individuum genauso wie ein ganzes Volk zeichnen. Mithin – und damit erweitert die Poesie unserer Tage das Bedeutungsspektrum – sogar eine ganze Biosphäre. In Esther Kinskys just erschienenem Band »FlussLand Tagliamento« birgt sie die jüngere geologische Geschichte des Friauls. Entlang des titelgebenden Stroms zeugen »verbliebene Wundflächen von Erschütterungen«. Sichtbar werden »Steilhänge wie Krusten, zurückgeschreckter Schorf über dem / Wasser, krüppliger Baumbestand an den Kanten, Wundhärten / um eine innere Unruh, da, wo das Erdbeben wuchs und die / Landschaft verschob.« Was hier seine Spuren offenbart, thematisiert die Autorin bereits in ihrem 2022 für den deutschen Buchpreis nominierten, faszinierenden Roman »Rombo«, nämlich die tektonische Plattenverschiebung von 1976, die ganze Dörfer in sich zusammenfallen ließ. Die Risse schrieben sich der Topografie und den von Verlust und Schmerz heimgesuchten Menschen gleichermaßen ein. Sie bleiben noch lange – und veranschaulichen zugleich, dass an ihrer Stelle noch Vitalität zu finden ist.
Insbesondere aus diesem Grund weigert sich der mit gleich zwei Preisen beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb bedachte Martin Piekar, sie mit Pflastern, die ohnehin nur Verdrängung signalisieren würden, zu bedecken. Zwar schreibt er (mit nietzscheanischen Anklängen) »wir bleiben wunden bis wir überwunden werden«. Aber diesen Zustand strebt sein lyrisches und durch und durch dysfunktionales Ich nicht an. Stattdessen bekennt es: So »will ich wund & wunder werden / unverwundbarkeit ist auch nur eine taubheit«. Versehrt zu sein, bedeutet hier, empfänglich und sensibel zu bleiben. Nur wer verletzbar ist, kann auch fühlen. Dieser Gedanke hat seinen Ursprung schon in den Grundfesten des Christentums, nämlich in den Wunden Jesu. Als sichtbarer Ausdruck seiner Passionsgeschichte machen erst sie aus Zuschauern Mitleidende, sie bilden den Kern der Heilsbotschaft.
Bis in das barocke Märtyrerdrama »Catharina von Georgien« aus der Feder eines Andreas Gryphius und später in die Theatertheorie eines Gotthold Ephraim Lessings hinein hält sich die Vorstellung, dass die Verletzung zur Empathie stimuliert. Indem die Poesie der Gegenwart die Wunde geradezu zelebriert, so sucht sie darin somit genau das Verstehen des anderen. Sie weiß eben, dass offene Körperstellen letztlich auch für den Eintritt in die Seele eines Menschen stehen. Und was könnte Lyrik in einer Zeit der Vereinzelung, mithin des Auseinanderdriftens ganzer gesellschaftlicher Milieus mehr leisten, als Potenziale für Nähe auszuloten?
Dass aus der Wunde und dem damit häufig einhergehenden Drama etwas Neues hervorgehen kann, zeigt sich immer wieder in der Kulturgeschichte. Schon Ovid machte sich in seinen Metamorphosen diese Einsicht zunutze, wie gerade die Geschichte um Philomela zeigt. Nachdem ihm die Tochter des Herrschers von Athen, Prokne, zur Frau versprochen wird, ist der Egomane Tereus noch lange nicht befriedigt. Drum vergeht er sich sogleich noch an deren Schwester. Um zu verhindern, dass diese ihr Leid mitteilen kann, schneidet er Philomela die Zunge heraus. Sie weiß sich indes anders zu helfen und webt Prokne ein Gewand, auf dem sie ihre Schmach zur Warnung darstellt. So grausam jener Mythos anmutet, so hat Proknes Handlung auch etwas Kreatives: Leid kann kreative Kräfte freisetzen, kann mit Mitteln der Kunst transformiert und gebannt werden.
Die Lyrikerin Doris Runge greift diese produktive Form der Versehrung in ihrem Gedicht »aus dem märchen«, abgedruckt im neuen Band »von liebe viel«, auf: »dohlen / umkreisten / den turm / dornröschenschlacht / dornen tief im fleisch / die ganze nacht / das ist die wunde / das ist die quelle / sie sammelt / die bäche / die flüsse / münden / ins offene meer.« Sie verheißt einen Neuanfang, die Öffnung schlechthin. Erst die Tragik um Dornröschens Schicksal trägt dazu bei, dass sich eine Geschichte entwickelt und erzählt werden kann. In seiner aktuellen Essaysammlung spricht der Dichter José F. A. Oliver vom »wunden Orte« sogar als der »Notwendigkeit«, damit er »ins Schreiben« gelange. Ferner hält er fest: »Wörter zeichnen weiter Wunden auf. Erfahrene Leiber. Narben. Gesprochene Rebellionen« (aus: »In jeden Fluss mündet ein Meer«).
Letztlich erinnern sie immer an Kämpfe, die ausgefochten wurden und gefährliche Situationen, die wir, als Einzelne oder Gemeinschaften, irgendwie überstanden haben. Sie repräsentieren ein Durchhalten und eine Reifung an Erfahrung. Wenn dann schließlich doch noch Haut die einst noch blutenden Stellen überdeckt, dann bleibt mit etwas Glück, was der Poet Christian Lehnert wiederum in seinen Denktexten »Der Gott in einer Nussschale« als das »Überschießende Gesunde« bezeichnet. Die Narbe hält Vergangenes wach, aber der Schmerz ist milder geworden.
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