»Es ist ein Ende der Welt!«

Kann man diese Werke leicht verstehen? Man kann! Ein Rückblick auf die Avantgarde beim Musikfest Berlin

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 11 Min.
Keine leidenschaftslose Gehirnarbeit, sondern ein durchlebtes Kunstwerk mit einer Aussage: Die Berliner Philharmoniker trommeln für Karl Amadeus Hartmann.
Keine leidenschaftslose Gehirnarbeit, sondern ein durchlebtes Kunstwerk mit einer Aussage: Die Berliner Philharmoniker trommeln für Karl Amadeus Hartmann.

Auf dem Programm der legendären Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte standen von 1905 bis zum Februar 1934 zahlreiche Werke wichtiger Komponisten vergangener Epochen (die Sinfonien von Bruckner oder Mahler waten damals nur wenige Jahre oder Jahrzehnte alt), aber auch etwa ein Drittel zeitgenössischer Musik, also von lebenden Komponisten, darunter 25 Uraufführungen, unter anderem von Bartók, Eisler, Korngold, Krenek oder Schönberg.

Die Konzerte wurden am häufigsten von Ferdinand Löwe und von Anton Webern geleitet, aber auch von anderen renommierten Dirigenten wie Oskar Fried (dessen Zyklus mit Mahler-Sinfonien »wackeren Spießern Verdauungsschwierigkeiten bereitet«, wie die Arbeiterzeitung schrieb), Jascha Horenstein, Clemens Krauss, Georg(e) Szell und sogar Richard Strauss.Wilhelm Furtwängler feierte bei den Arbeiter-Sinfoniekonzerten sein Wien-Debüt, und Bela Bartók spielte dort 1927 die österreichische Erstaufführung seines »Ersten Klavierkonzerts«. Die Eintrittspreise waren niedrig, um allen Arbeiter*innen die Teilnahme zu ermöglichen, es gab ausführliche Programmhefte, die natürlich kostenlos verteilt wurden, denn sie sollten »das Verständnis der Werke erleichtern«. Die Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte verfolgten die Demokratisierung des Musiklebens und waren eine Maßnahme der Kulturpolitik des Austromarxismus bis zum gescheiterten Aufstand 1934, dem dann »der weiße Terror des Klerikalfaschismus folgte« (Heinz-Klaus Metzger).

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Einer der maßgeblichen Initiatoren dieser Reihe, der Musikkritiker und sozialistische Kulturfunktionär David Josef Bach, forderte, dass die Arbeiter-Symphoniekonzerte »systematisch zu schwierigeren Werken fortschreiten« müssten, also das Gegenteil von heutiger hilfloser Kulturpolitik, für die die Künste nicht »leicht« und anspruchslos genug sein können, um alle Menschen »mitzunehmen«. Bach meinte, dass für das Publikum der Arbeiterkonzerte eine Sinfonie von Brahms »schwieriger als die ›Verklärte Nacht‹von Schönberg« wäre.Brahms »schwieriger« für die Arbeiterschaft als Schönberg? Gewiss, Adorno schrieb 1948, dass »die Meinung, Beethoven sei verständlich und Schönberg unverständlich, objektiv Trug« sei. Aber dass aktuelle Musik für Arbeiter*innen – übersetzen wir in unsere Tage: für prekär lebende Menschen, für Arme oder für Leute mit geringerer »Allgemeinbildung« – leichter verständlich ist, macht durchaus Sinn: Die Klangwolken eines Xenakis, die Visionen eines Heiner Goebbels, die Sampletechniken vieler aktueller Komponist*innen sind Sounds, die zeitgemäß sind und unmittelbare Erlebnisse beinhalten – während Bachsche Fugen oder die eher dialektischen Sinfonien von Beethoven eines gewisses »Know-hows« bedürfen, das wir heutzutage allein schon wegen mangelnder musischer Bildung nicht mehr voraussetzen können.

Machen wir also die Probe aufs Exempel, beleuchten wir einige der modernen und aktuellen Kompositionen, die im vielfältigen Programm des Musikfests Berlin dieses Jahr zu finden waren, das ja seit jeher einen Schwerpunkt auf die »Avantgarde« legt. Das überraschenderweise radikalste Programm dieses Musikfests dürfte ein Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Kiril Petrenko gewesen sein. Lauter zeitgenössische Kompositionen, die älteste aus dem Jahr 1963, die jüngste eine Uraufführung. Zu Beginn gleich einer der Höhepunkte des gesamten Musikfests: Die schillernde Aufführung von »Jonchaies« des griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis, der 1941 im Widerstand gegen die italienischen Besatzer und in der Folge gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte; die im Winter 1941/42 in Griechenland fürchterlich wütete. Nachdem die Deutschen durch den erbitterten Widerstand vertrieben wurden, kamen die Engländer. »Ihr Ziel war es« laut Xenakis, »diese phantastisch starke Widerstandsbewegung zu zerschlagen«. Dann begann die 33 Tage dauernde Belagerung von Athen, die Engländer griffen die Athener Stellungen des Widerstands an: »Sie bombardierten uns aus der Luft, und sie bauten ihre Geschütze sogar auf der Akropolis auf. Nicht einmal die Deutschen haben so etwas getan. Die Engländer wollten die Kommunisten auslöschen – und das ist ihnen auch fast gelungen.«

Im Februar 1945 wurde der Partisan Xenakis während der Kämpfe von einem Geschoss aus einem britischen Panzer schwer verletzt, er verlor ein Auge und blieb durch die Lähmung seiner linken Gesichtshälfte zeitlebens gezeichnet. »Ja, ich wurde von dem Geschoß eines Sherman-Panzers getroffen«, erinnert sich der Komponist 1980, um trocken hinzuzufügen: »Aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon einige von ihnen in die Luft gejagt.« 1947, das Regime hatte die ersten Konzentrationslager errichtet, verurteilte ein Militärgericht Xenakis zum Tode, und er floh nach Italien und dann weiter nach Frankreich, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. »Diese Erlebnisse sollten später für meine Musik von besonderer Bedeutung sein.« Ohne die Erlebnisse der Massendemonstrationen, des gemeinsamen Kampfs und des Aufstands gegen Faschisten ist die Musik von Xenakis nicht denkbar.

»Jonchaies« beginnt mit einem Streicher-Tornado sondergleichen. Xenakis verwendet dafür eine neue, von ihm erfundene Tonleiter: »Es gibt nicht nur einen, sondern viele Stimmverläufe; jedoch besitzen alle den gleichen Tonumfang und verwenden die gleiche Skala«, erklärte Xenakis 1980 in einem autobiographischen Gespräch mit Bálint András Varga. Dank der Verwendung neuartiger Skalenkonstruktionen durch die in verschiedene Gruppen aufgeteilten Streicher entsteht eine Art »Strömen« (flux), ein unmittelbarer Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die nicht-oktavierenden Tonleitern erzeugen völlig neue orchestrale Klangfarben. Die polyphonen Strukturen werden durch Tonwolken ersetzt. Abgelöst wird dieser wogende oder »wallende« (Xenakis) Streicher-Wahnsinn durch eine höllische perkussive Kraftexplosion, in der sich verschiedenste Rhythmen und Tempi überlagern und die Pole des Orchesters ihre Kämpfe aufführen – ein wunderbar tosender Lärm, der von den glänzenden Berliner Philharmonikern so brillant aufgeführt wird, wie ihn wohl kein anderes Orchester der Welt entfachen kann.

Vage wird man an Mossolows »Eisengießerei« erinnert, was den Lärm und den Sog angeht, aber Xenakis ist ein ungleich verrückterer Komponist, der sein Inferno mit erfundenen Tonskalen, durcheinander bewegten Rhythmen und abenteuerlichsten Streicherglissandi konstruiert hat. Nochmals Posaunengedröhne, wildes Glockengebimmel, Paukenekstase – dann plötzlich hohe, pianissimo verklingende Flötentöne: Das Stück endet im schilfbewachsenen Röhricht (»Jonchaies«), dem Rückzugsort der Wasservögel, mit Vogelgezwirpe.

Die Musik von Xenakis kann als Spiegel politischen Unheils interpretiert werden, ist aber gleichzeitig »eine selbständige Musik, bei der man nicht unbedingt wissen muss, worum es geht«, so der Komponist, dessen Musik oft voll von Gewalt ist und nie lyrisch oder romantisch. Im Gespräch mit Balint erwähnt Xenakis, dass ihn »manchmal eine sentimentale Melodie zu Tränen rühren« könne. »Ich will aber nicht von ihr gerührt werden.« Und warum nicht, fragt Varga, und erhält eine faszinierende Antwort: »Weil Musik nicht auf diese Weise gehört werden soll.« Ich bin mir sicher, dass die Nicht-Privilegierten unserer Tage die Musik von Xenakis unmittelbar erleben und ihrer Faszination erliegen würden.

Anders, und doch in seiner ungeheuren Wirkung vergleichbar, ist György Kurtágs Trauermusik »Stele« in Erinnerung an seinen Mentor. Da werden Kompositionen von Beethoven, Bruckner (eine Passage des ersten Satzes ist »Feierlich: Hommage à Bruckner« überschrieben), Wagner und Webern zitiert, um von aufgeregt herumpickenden Bläsern unterbrochen zu werden; im zweiten Satz erleben wir eine schmerzensreiche Musik aus absteigenden, geradezu in der Trauer bohrenden Kontrabässen, und im letzten Satz dann aus neun Tönen gebaute Säulen-Akkorde, durch die einzelne Töne wie Aphorismen wehen, düsteres Glockengeläut und ein Streicherchoral – Stelen eben, die Gedenksteine der Antike und bei Kurtág aufwühlende Bekenntnisse und Gedankenfetzen, von den Philharmonikern, die dieses Werk 1994 unter der Leitung von Claudio Abbado uraufgeführt haben, brillant dargeboten.

Ein Fixpunkt des Musikfests sind die Auftritte des Ensemble Modern, diesmal unter der Leitung des Komponisten George Benjamin in der »Orchestra«-Version angetreten. Im Zentrum die Uraufführung des »Cantico delle Creature« für Sopran und Orchester des italienischen Komponisten Francesco Filidei unter Nutzung des Sonnengesangs von Franz von Assissi. Dessen dreizehn Verse lässt Filidei absteigend auf jeweils einem Ton der chromatischen Tonleiter basieren, sodass am Ende wieder das Fis des Ausgangspunkts erreicht ist. In dieser eindrucksvollen Komposition weht ein Sommerwind über Assisi, daraus entwickeln sich sanfte Klänge, Farbtupfer wie auf einer umbrischen Blumenwiese, auf der die Lockpfeifen, die Filidei verwendet, Nachtigallen, Wachteln und Drosseln erklingen lassen. Alte italienische Madrigalklänge von Cello und Bratsche auf der Basis tief wimmernder Kontrabässe vermischen sich mit Avantgarde-Sounds und allerlei Trommeln, einer Spieluhr, einem Regenstab, einer Windmaschine, Brummdosen und sogar einer Peitsche, dann aber auch mit einem Akkordeon, und all das könnten auch plötzlich aus den Reisfeldern auftauchende Canzoni der Reisarbeiterinnen sein. Die wunderbare Sopranistin Anna Prohaska interpretiert diese Gesänge, eine einzige große Hymne an die Natur, nicht nur, sie lebt sie geradezu mit einer unbeschreiblichen Gestaltungskraft. Ein großartiges Werk, das hoffentlich viele Aufführungen erleben wird.

Unsuk Chin ist längst eine der etabliertesten Komponistinnen unserer Zeit. Nach der Aufführung ihres Konzerts für Sheng und Orchester durch das DSO konnten die Musikfest-Besucherinnen nun ihr »Spira« getauftes Konzert für Orchester erleben, ein »Kraftwerk orchestraler Expressivität« (Dirk Wieschollek im Programmheft). Es beginnt mit den gestrichenen Klängen zweier räumlich getrennter Vibrafone, deren Lautstärke von je einem zusätzlichen Musiker von Null bis zum Maximum geregelt wird und denen neben der atmosphärischen auch eine tragende strukturelle zukommt: Ihre »Resonanz zieht sich als eine Art ›Heiligenschein‹ durch das ganze Werk«,erklärt Unsuk Chin.

Und all das führt »zu komplexen Interferenzen und wechselnden rhythmischen Mustern«, bis die Streichergruppe das Konzept übernimmt und ein ewiges Schwanken »zwischen konsonanter Harmonik und extremen Tonclustern erzeugt«. Eine äußerst schöne und gleichzeitig »hässliche«, beunruhigende Musik, in der die einzelnen Musiker*innen an die Grenzen des technisch Machbaren geführt werden. Das Ensemble Modern Orchestra, das weltweit einzige Orchester, das auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisiert ist, ist diesem Werk natürlich auf allen Ebenen gewachsen und führt es spektakulär auf.

Das Konzerthausorchester Berlin war mit seiner neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz und dem »Violinkonzert« (2020) von Donnacha Dennehy zu hören, dessen Solopart sein Widmungsträger Augustin Hadelich spielte. Ein Werk des Spektralismus, könnte man sagen, mit einer verrückten Kadenz im 1. Satz, bei dem der Geiger in allerhöchsten und extrem schnell wirbelnden Tönen herumwerkelt – womöglich eine der »schönsten« Musiken unserer Tage. Das »tranquil and spacious« überschriebene Largo bietet ein sinnliches Schweben in wieder hohen und höchsten Tönen, assistiert vom auf der Erde zurückgelassenen Orchester, das Kleckse ins Solo mischt, bevor es dann im Untergrund rumort und Tuba-Sprengsel (Michael Vogt, seit 40 Jahren Mitglied des Konzerthausorchesters) ins Spektralfarben-Meer gemixt werden. Der 3. Satz dann ein Jig, also ein lebhafter, vor allem in Irland gespielter volkstümlicher Tanz. Dennehy lässt diesen Tanz in verschiedensten Rhythmen und höchster Virtuosität von Solist und Orchester abheben, wild und furios, Ekstase pur – und am Schluss ein mächtiger Donnerhall. Tolles Stück, herausragender Solist. Und überraschend, was für eine Ausdruckstänzerin die vom Publikum vehement gefeierte Joana Mallwitz am Pult ist, jede Phrase mit Gesten ihrer langen Arme ausformulierend – dagegen ist Currentzis geradezu ein Stoiker…

Aber nochmal zu dem eingangs bereits erwähnten, sensationellen Konzert der Berliner Philharmoniker: Sie führten auch die 1963 entstandene »Gesangsszene« von Karl Amadeus Hartmann zu Worten aus »Sodom und Gomorrha« von Jean Giraudoux auf, extrem eindrucksvoll von Christian Gerhaher interpretiert. Hartmann war Sozialist, Pazifist und Antifaschist. Nach dem Ende des Faschismus gestaltete Hartmann den Neubeginn des Musiklebens mit, etwa als Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper und als Gründer und jahrzehntelanger künstlerischer Leiter der der Neuen Musik gewidmeten Münchner Konzertreihe »musica viva« (die seit 2011 von Winrich Hopp geleitet wird, der auch Intendant des Musikfest Berlin ist).

Die »Gesangsszene« ist Hartmanns letztes Werk, und es ist eine aus purer Verzweiflung entstandene, düstere Komposition angesichts des Wettrüstens und der atomaren Gefahr, die er etwa beim Satz »in den Zellen fand man Atome« durch eine besonders scharfe, geradezu brutale Dissonanz kennzeichnet. »Ich will keine leidenschaftslose Gehirnarbeit, sondern ein durchlebtes Kunstwerk mit einer Aussage.« Und diese Aussage trägt Hartmann leidenschaftlich vor. Die Kantate ist der trauernde Protest eines mitleidenden und empörten Künstlers gegen die Weltläufe und gegen den menschengemachten Untergang – aufs Neue aktuell angesichts der Klimakatastrophe, der Kriege und der Barbarei unserer Tage. Eine eindringliche Klage, die mit den nicht mehr gesungenen, sondern gesprochenen Worten »Es ist ein Ende der Welt! Das traurigste von allen!« endet. Denn auch der Gesang, auch die Musik werden sterben, wenn wir mit unserer imperialen Lebensweise so überheblich und ungerührt weitermachen.

Die Aufführungen moderner und modernster Musik beim Musikfest waren Höhepunkte des Berliner Konzertlebens. Würden diese Avantgarde-Werke auch jungen Leuten oder prekär lebenden Menschen ohne musikalische Vorkenntnisse etwas sagen? Es käme auf einen Versuch an. Wie wäre es denn, wenn das Musikfest 2024 ein paar Wochen oder Monate vorab versierte Musikpädagogen zum Beispiel nach Neukölln oder in den Wedding schickt, dort Menschen mit dieser Musik bekannt macht und sie zu den Konzerten in die Philharmonie einlädt? Ohne eine aufsuchende musikalische Bildungsarbeit wird es nicht gehen. Und es wäre doch schön, wenn bei diesen wunderbaren Konzerten auch eine größere Bandbreite der Gesellschaft in den Konzerten anwesend sein könnte als bisher.

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