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Tag des Kaffees: Mit dem Kuchen denken
Heraus zum Internationalen Tag des Kaffees – und hinein ins nächste Café (auch wenn es kein Wohnzimmer ist)!
Das Sofa meines Lieblingscafés ist durchgesessen, ein Laptop schaukelt auf meinem Schoß, vor mir liegt ein aufgeschlagenes Notizbuch, darauf steht: »Kapitel 3 überarbeiten – Bilder der Kulturindustrie«. Ich befinde mich im dritten Semester meines Philosophiestudiums, trage einen schwarzen Rollkragenpulli und will in der Hausarbeit Adorno zitieren. Die indirekte Beleuchtung der altmodischen Stehleuchte taucht meine Tastatur in eine Art warme Sepia-Landschaft. Mein Blick schweift ein letztes Mal grübelnd durch den mit Vintage-Möbeln vollgestellten Raum, bis er wenige Meter entfernt an der Kuchenvitrine kleben bleibt. Es gibt hier Cheesecake. New York Cheesecake, um genau zu sein, wahlweise mit Himbeersoße. Wäre ein wenig Zucker jetzt nicht förderlich?
Waren es nicht auch die Aprikosencocktails, von Simone de Beauvoir im »Café Bec de Gaz« geschlürft, die den Existenzialismus erblühen ließen? Und hat nicht gerade die cremige Melange der Wiener Kaffeehäuser namhafte Künstler, Literaten und Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts (im generischen Maskulinum) versammelt? Muss man nicht sagen, dass es die Sachertorte war, die das europäische Denken ureigentlich vorangebracht hat? Das Kaffeehaus als Werkstätte des Denkens sei ein demokratischer Ort gewesen, wie der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen Memoiren festgehalten hat. Ein Ort, der jedem eine »billige Schale Kaffee« und »einen Sitzplatz« zum Schreiben, Diskutieren oder Kartenspielen ermöglicht habe, dazu Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften: »Täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns.«
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Selbst das frostige Gemüt eines Thomas Bernhard, Vorzeige-Misanthrop und performativer Einsiedler par excellence, ließ sich vom Kaffeehaus erwärmen: »Das typische Wiener Café, das in der ganzen Welt berühmt ist, habe ich immer gehasst, weil alles in ihm gegen mich ist. Andererseits fühlte ich mich jahrzehntelang gerade im Bräunerhof, das immer ganz gegen mich gewesen ist (wie das Hawelka), wie zu Hause.«
Ganz gegen Bernhard war wohl das Gemeinschaftliche im Café, das Sehen und Gesehenwerden, das hitzige Diskutieren, der kreative Austausch und der Genuss, den diese Orte zu bieten hatten. Ein öffentlicher Raum als Wohnzimmer und Treffpunkt, an dem das Verweilen im Vordergrund stand und das Schwelgen in Gedanken.
Die europäische Boheme pflegte im Café ihren kreativen Größenwahn; in Berlin war es das berühmte Café des Westens, von der Dichterin Else Lasker-Schüler ihre inoffizielle Zweitwohnung genannt, in der sich feste Stammtische formierten, und wo bis fünf Uhr morgens »Kampfgespräche über Literatur« geführt wurden, wie sich Autor Leonhard Frank erinnert. Das Demokratische dieser Kaffeehäuser stellte nicht zuletzt der Maler und Dichter John Höxter unter Beweis, bekannt geworden als »Berlins populärster Schnorrer«, dem es ganz egal war, wer an den runden Tischchen saß, in Höxters Augen waren alle gleich, solange sie ihn mit fünfzig Pfennig über den Abend retten konnten.
Aber wenn man mal die Frage beiseiteschiebt, wer wirklich Zutritt zu diesen demokratischen Hallen des Denkens bekam, sich ihn leisten konnte oder sich in echter Boheme-Manier über seine materiellen Mittel hinweg leistete, wer die Zeit hatte, zu verweilen, oder das Zutrauen, sich dort blicken zu lassen, und wer nicht, dann kommt tatsächlich ein wenig Sehnsucht auf. Denn diese Wohnzimmer gibt’s nicht mehr.
Am 1. Oktober ist der Internationale Kaffee-Tag. Die Institution Kaffeehaus hat sich zwar vom großen Sterben in den 70er und 80er Jahren erholt, seit 2011 gilt die Wiener Kaffeehauskultur sogar als immaterielles Kulturerbe der Unesco. Aber mit Erbschaften ist das immer so eine Sache. Man nehme die gute alte Kaffeehauskultur, eine globalisierte Wirtschaftsordnung, eine gute Prise Postfordismus und hebe dann ganz vorsichtig den Konsum der Massen unter. Dabei kommen nicht nur schwere Kalorienbomben wie Starbucks, Cheesecake Factory, oder Coffee Fellows heraus, sondern auch feinere Kreationen wie das süße Café im Lieblingsviertel, das neben veganem Karottenkuchen eine Bandbreite an Speciality Cofffee anbietet, handgefilterte Rezepte mit langsam gerösteten Bohnen für vier bis sechs Euro pro Tasse. Oder die weiß geflieste Kaffee-Manufaktur mit mattschwarzen Metall-Leuchten und ordentlich belegten veganen Avocado-Stullen.
Manchmal ist es auch die rohe Industriehalle, etwas außerhalb gelegen, offene Rohre an Decke und Wänden, mit gemütlichen Sitzgruppen und Arbeitsbereichen, aus denen heraus Co-Working betrieben und neben frischen Zimtschnecken zahllose Insta-Kacheln konsumiert werden. In diesen Cafés trifft sich eine neue, schöne Boheme, ein bisschen Bobo, ein bisschen DJ, junge Kreative, die sich austauschen, ablichten und gemütliche Stunden miteinander verbringen, allerdings eher zwei als zwölf. Manche setzen sich auch allein an einen Tisch, Bernhard ähnlich, das Mac Book aufgeklappt, die Kopfhörer auf den Ohren und den Koffeinkick effizient ausnutzend. Aber wer debattiert hier bis fünf Uhr morgens über Literatur?
Im öffentlichen Raum herrscht heute Konsumzwang, und das produziert weitere Ausschlussmechanismen. Das ist kein Geheimnis, es lässt sich aber leicht verdrängen, wenn man es gemütlich hat. Und gemütlich wird es vor allem durch die subtilen Bilderwelten, die nicht nur über soziale Medien oder das Kino zu Marktmitteln werden.
Wie viel unbewusste Nostalgie für eine alte Tradition, für ein 20er-Jahre-Bild des Intellektualismus steckt in meiner Entscheidung gegen »eine billige Schale Kaffee« zu Hause? Ich schaue auf die großen Blätter der Monstera neben mir. Wie unschuldig sie in der Brise der Klimaanlage vor- und zurückwippt und Fotosynthese betreibt, als wäre sie nicht Teil einer kuratierten Bilderwelt, die ich neben Kreidetafeln, Betonwänden und Spotify-Algorithmen zu mir nehme. Wie Adorno schon sagte: Es gibt kein »Freio« im Spätkapitalismus, keinen Ort, wo man nicht gefangen werden kann.
Jedes noch so kleine Detail kann Teil eines konsumierbaren Bildes sein, in das ich mich bereits gefügt habe. Der schlichte blaue Einband der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von »Minima Moralia« liegt vor mir auf dem Holztischchen. Wie perfekt er zu der abgenutzten Sofagarnitur passt, denke ich noch, richte mich dann auf und will gerade zu einer Antwort auf die Frage ansetzen, ob ich Himbeersoße zu meinem Cheesecake möchte. »Nein. Warten Sie …« Mich lockt ein Schildchen, das mittig in der Kuchenvitrine die neuste Kreation anpreist: »vegan, besser als das Original«. »Ich nehme doch lieber ein Stück Sachertorte.«
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