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Vier Jahre nach Halle
Was hat sich seit dem antisemitischen Anschlag verändert?
Vor vier Jahren versuchte ein Rechtsterrorist zu Jom Kippur in die Synagoge in Halle einzudringen und die rund 50 dort feiernden Jüd*innen zu ermorden. Dem Attentäter gelang es nicht, die Sicherheitstür zur Synagoge zu überwinden. Bei seinem nachfolgenden Amoklauf erschoss er die Passantin Jana L. hinterrücks und ermordete Kevin S. im »Kiez-Döner«.
Seitdem ist in zahllosen politischen Reden gefordert worden, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. Was hat sich aber in den vier Jahren nach dem Anschlag verändert? Im vergangenen Jahr hat die Polizei allein in Halle 144 antisemitische Straftaten festgestellt. Im Jahr des Anschlags waren es noch 70. Die AfD ist auf einem Umfragehoch, Querdenker haben antisemitische Verschwörungstheorien auf die Straße und ins Netz getragen, Hubert Aiwangers Karriere hat trotz seiner Verbreitung antisemitischer Flugblätter keinen Schaden genommen, die documenta in Kassel stellte antisemitische Kunstwerke aus, in Nordrhein-Westfalen blockiert die CDU gemeinsam mit AfD und Freien Wählern die Finanzierung einer NS-Gedenkstätte – das gesellschaftliche Klima, in dem der Anschlag von Halle stattfand, hat sich weiter verschlechtert.
Dazu gehört auch die Beliebtheit rassistischer Diskurse etwa über Migration. Nicht allein wegen der zeitlichen Nähe werden die Anschläge von Halle und Hanau oft in einem Atemzug genannt: Sie verdeutlichen den mörderischen Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus. Als der Attentäter von Halle sein ursprüngliches Anschlagsziel nicht verwirklichen konnte, wandte er sich einem zweiten Vorsatz zu, nämlich muslimisch gelesene Menschen umzubringen. Antisemitismus und Rassismus sind unterschiedliche Phänomene, die sich jedoch ergänzen. Während der Attentäter sich vor einer vermeintlichen »Überfremdung« durch Muslime fürchtete, machte er Jüd*innen als »Wurzel« des Übels aus. Wenn heute überparteilich Ängste vor Migration geschürt werden, nährt das letztlich auch die rechte Ideologie, der Antisemitismus immer inhärent ist.
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Neben den ideologischen Grundlagen hat der fahrlässige Umgang der Behörden mit der Sicherheit von Jüd*innen den Anschlag ermöglicht. Der 2021 veröffentlichte Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses gab an, ein »erhöhter polizeilicher Schutz der Liegenschaft und der Veranstaltungen zu Jom Kippur« sei »aufgrund der Gefahrenanalyse unterblieben«. Die Gefahr ist der Gemeinde allerdings offensichtlich vollkommen klar gewesen. Die Sicherheitstür der Synagoge, die den Täter aufgehalten hat und die Bundespräsident Steinmeier später ein »Symbol der Stärke und des Zusammenhalts« nennen sollte, war ein Geschenk der Jewish Agency in Jerusalem.
Der Journalist Ronen Steinke schreibt in seinem Buch »Terror gegen Juden«: Die »jüdische Gemeinde war schlicht vergessen worden, so wie überall in Sachsen-Anhalt. Vom Staat gab es kein Geld für Schutzmaßnahmen.« Anstatt dass die Bundesrepublik dafür aufkommt, musste die Gemeinde sich selbst an Spender*innen wenden. Eine Vertreterin der Nebenklage im Halle-Prozess, Antonia von Bohrens, sagte im Prozess, was am 9. Oktober 2019 um 12 Uhr geschehen sei, wisse man: »Nur aufgrund des von der Gemeinde selbst organisierten Schutzes haben die Jüdinnen und Juden in der Synagoge überlebt.« Eine Aufarbeitung des staatlichen Versagens hat nicht wirklich stattgefunden.
Die Behörden mögen überrascht gewesen sein, jedoch haben zahlreiche Jüd*innen sowie Antisemitismuskritiker*innen direkt nach dem Anschlag gesagt, diese Überraschung keineswegs zu teilen. Bei rechter Propaganda handelt es sich um Absichtserklärungen. Der genaue Zeitpunkt von Gewalttaten steht zumeist nicht fest, dass sie kommen, kündigt sich aber ständig an. In Halle agitierten die sogenannten Montagsmahnwachen, unter anderen organisiert vom Neonazi Sven Liebich, jahrelang gegen Jüd*innen. Die Betroffenen kommen oftmals gar nicht umhin, diese Drohgebärden ernst zu nehmen, denn es geht um ihr Überleben. Sie können sich die Beschäftigung mit Antisemitismus nicht aussuchen und es erinnert an vergangene Traumata.
Benjamin Steinitz vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) schrieb als Sachverständiger im Halle Prozess: »Die Wirkungen des Anschlags haben sich bundesweit bei jüdischen Gemeinschaften gezeigt. Die dadurch erzwungene Auseinandersetzung mit Antisemitismus und der eigenen Sicherheit dockte an transgenerative Kollektiverfahrungen jüdischer Communitys an und hat so Wissensbestände und Erfahrungen anderer Anschläge evoziert.« Der Zusammenhang wird zum Teil aktiv von Zeug*innen im Prozess hergestellt. So bringt etwa ein Zeuge den Anschlag direkt mit der Schoah in Verbindung: »Die zweite Synagoge steht heutzutage nur, weil die erste Synagoge am 9. November 1938 zerstört wurde.« Mehrere weitere Zeug*innen sprachen über Verfolgungserfahrungen in ihren Familiengeschichten.
Die Kontinuität antisemitischer Propaganda und letztlich Gewalt in der Bundesrepublik wird aber von Behörden und der Rechtsprechung regelmäßig ausgeblendet. Als sich 2014 der Konflikt zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel zuspitzte, versuchten drei Jugendliche, die Wuppertaler Synagoge niederzubrennen. Die Jugendlichen wurden verurteilt, allerdings wertete das Gericht im ersten Urteil die Tat nicht als antisemitisch, sondern als politisch motivierte Kritik am Staat Israel. Wenn Antisemitismus vor Gericht steht, findet oftmals eine Art umgekehrte Hermeneutik statt: Man sucht nach der abwegigsten Lesart einer Tathandlung, um Zweifel an ihrem antisemitischen Gehalt zu wecken. Selbst nach Halle ist es scheinbar noch so unbegreiflich für Gerichte, dass sie sogar die antisemitischen Tiraden des »Querdenkers« Sucharid Bhakdi zu »Israelkritik« verharmlosen. Marina Chernivsky, Leiterin des Kompetenzzentrums der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, spricht von einer »Verrätselung des Antisemitismus«. Wo sich der Hass gegen Jüd*innen weniger unverstellt zeigt als beim Anschlag in Halle, wird er ständig mystifiziert, gleichwohl es an Beispielen für seine gewaltvolle Absicht nicht mangelt.
Es gehört zum skandalösen Alltag der Bundesrepublik, dass sämtliche jüdische Einrichtungen potenzielle Ziele terroristischer Anschläge sind. Ihr Schutz bleibt allzu oft den Gemeinden selbst überlassen, die teilweise große personelle und auch finanzielle Ressourcen einsetzen müssen, um das Leben ihrer Mitglieder sicherer zu machen. Erschwert wird dieser Selbstschutz zusätzlich durch mangelnde Sensibilität der Sicherheitsorgane und ihre unzureichende Verurteilung rechter Beamter. Die ideologischen sowie strukturellen Grundlagen, die den Anschlag von Halle möglich gemacht haben, sind weiterhin da. Vier Jahre sind vergangen und es würde auch heute wohl kaum überraschen, wenn es wieder passiert.
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