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Sinthujan Varatharajah: »Ich werde völlig falsch verortet«

Varatharajah ist seit zwei Jahrzehnten Teil der eelam-tamilischen Befreiungsbewegung. Heute wird sie*er oft auf ihre*seine Onlinearbeit reduziert

Vor einem Jahr erschien Sinthujan Varatharajahs erstes Buch »an alle orte, die hinter uns liegen«.
Vor einem Jahr erschien Sinthujan Varatharajahs erstes Buch »an alle orte, die hinter uns liegen«.

Die Frage »Woher kommst du« wurde in den vergangenen Jahren vielfältig problematisiert. Sie selbst lehnen sie aber nicht ab, und auch Ihre Arbeit beschäftigt sich mit genau dieser Frage, wo Sie und alles um Sie herum hergekommen sind, oder?

Ich habe kein Problem damit, wenn sie mir gestellt wird. Die Frage an sich ist oft falsch formuliert. Meistens geht es hier weniger um die Geografie selbst als um die Frage der »Rasse« und Ethnie, des was. Eigentlich wird gefragt, was du bist und warum du hier bist und nicht woher. Aus dem Kontext, aus dem ich komme, ist es weniger schwierig zu beantworten, weil das, wer wir sind, zentral dafür bleibt, warum wir überhaupt hier sind und hier Zuflucht suchen mussten.

Ich verstehe schon, warum viele rassifizierte Menschen sich von dieser Frage angegriffen fühlen. Weil ihnen dadurch die Selbstverständlichkeit und Berechtigung ihres Daseins von Deutschen direkt abgesprochen wird. Was ich schwierig finde ist, dass ethnische Minderheiten in ihrer Kritik an der Frage aber häufig und reflexartig öffentlich ihr staatsbürgerliches oder kulturelles Deutschsein öffentlich markieren wollen. Diese Verinnerlichung der nationalstaatlichen Ideologie als Reaktion auf die gewaltvolle nationalstaatliche Doktrin ist vielleicht erwartbar, aber sie ist auch selbstverneinend. In einem Staatskonstrukt, in dem eine Nation synonym zum Staat steht, werden durchgehend Mehrheiten und Minderheiten geschaffen. Letztere werden dabei gezwungen, ihre Unterscheidungen zu kaschieren, sie kleinzureden, sich kleinzumachen, sich anzupassen und unsichtbar zu werden. Und das, obwohl, wer wir sind, trotz vielleicht wechselnder Pässe, Sprachen und Adressen, bestehen bleibt. Das Negieren tun wir selten für uns, denn zu Hause bleiben wir wir. Wir werden gezwungen, uns für die deutsche Öffentlichkeit kleinzumachen, um die nationalstaatliche Ordnung zu wahren und darin letztlich einen von Deutschen unanfechtbaren Platz zugeteilt zu bekommen.

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Welches Wir meinen Sie?

Im Tamilischen spricht man*¹ selten vom Ich, man spricht im Kollektiven. Wenn ich »wir« sage, spreche ich von mir, gleichzeitig von meiner Familie und auch von Eelam-Tamil*innen² wie mich. Wir haben eine klare Verfolgungs- und Vertreibungsgeschichte, die leider noch immer fortlebt. Dementsprechend sind die Spuren von Gewalt sehr klar – in den Familien als auch in den Erzählungen, die wir von uns selbst haben. Das, was ich nicht anbieten kann, wenn jemand fragt, woher ich bin, ist ein anerkannter Staat. Ich sage deshalb ganz oft einfach, ich bin tamilisch. Dann lautet die nächste Frage sehr oft: »Wo ist tamilisch?«. Meine Antwort ist meistens: »Im sogenannten indischen Ozean«. Weil Tamil*innen dort in verschiedenen Küstenregionen leben. Aber auch darauf reagieren viele Menschen irritiert, weil sie einen Nationalstaat als Lösung suchen. Auch das zeigt wieder, wie tiefgreifend die ideologische Wirkung des Nationalstaates ist.

Wer die Frage stellt, spielt immer eine Rolle, oder?

Bei Deutschen antworten wir oft ganz anders als bei Nicht-Deutschen. Wenn ich unter uns sagen würde, ich wäre »deutsch«, würden die meisten erst einmal lachen. Da gibt es eine ganz andere Intimität, eine andere Ehrlichkeit, die wir mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht teilen. Und wir wollen ihr auch keinen Zugang zu dieser Intimität verschaffen. Das finde ich gut so. Ich persönlich will mich aber in meinem Sprechen nicht anpassen, weil mein Gegenüber mein Sein nicht verändert. Ich bin eelam-tamilisch vor anderen Eelam-Tamil*innen, aber auch vor Deutschen. Mein Sein wird weder durch den deutschen noch durch den sri-lankischen Nationalstaat definiert. Wenn du aus einem staatenlosen Volk kommst, dann ist der Staat ja genau das Problem, das die Staatenlosigkeit schafft und in dem du der Verfolgung ausgesetzt wirst. Ich will mich hinter und vor keinem Staat verstecken.

Interview

Sinthujan Varatharajah ist seit 20 Jah­ren in der eelam-tami­li­schen Befreiungs­bewegung aktiv. Heute wird Varatharajah häufig vor allem über ihre*seine Präsenz auf Instagram wahrgenommen und ist dort durch kritische Reflexionen und wunderschön kuratierte Inhalte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Vor einem Jahr erschien ihr*sein erstes Buch, »an alle orte, die hinter uns liegen«, bei Hanser.

Warum seid Ihr Eelam-Tamil*innen hier, und warum wissen nur die wenigsten darüber?

Wir Eelam-Tamil*innen werden vom sri-lankischen Staat verfolgt, haben mehrere Völkermorde erfahren und sind als Teil des sri-lankischen Zerstörungsapparates auch ethnische Säuberungsprojekte durchlaufen. Deshalb sind mehr als zwei Millionen Tamil*innen zu internen oder externen Geflüchteten geworden. Etwa ein Drittel unserer Bevölkerung lebt heute im Ausland. Ich sehe mich dezidiert als Teil dieser Geschichte und lokalisiert in der tamilischen Exilgesellschaft. In Deutschland ist diese Geschichte aber für irrelevant erklärt. Die Arbeit, die ich seit über zwei Jahrzehnten mittrage, ist für viele weder verständlich noch interessant. Es ist kein Kampf, mit dem man* sich hier schmücken kann, der viel Mehrwert in der Solidaritätshierarchie erfährt. Die meisten Menschen wissen weder, wer wir sind noch warum wir hier sind. Und daran hat sich auch nach mehr als 40 Jahren nichts verändert. Wir bleiben aufgrund von rassistischen und narzisstischen Parametern abstrakt und Fremde in und für die europäische Kategorie »Mensch«. Um uns zu verstehen, müssen wir uns mit anderen staatenlosen Gruppen vergleichen, die von Europäer*innen als relevant erklärt werden, um auch nur ein Minimum an Empathie zu verfahren.

Durch Ihre Präsenz im Internet, etwa durch Ihre wunderschön kuratierten kritischen Reflexionen auf Instagram sind Sie in bestimmten Kreisen fast schon zu einer Art Star geworden. Ihr erstes Buch »an alle orte, die hinter uns liegen« war ein riesiger Erfolg. Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen zurück?

In den vergangenen Jahren hat mich ein neuer deutscher Mainstream entdeckt. Existiert und gearbeitet habe ich aber schon viel länger. Mein Publikum war vorher größtenteils im Ausland, insbesondere eelam-tamilisch – generell nicht-europäisch. Ich fand es interessant, wie ich eingeholt und in gewisser Weise auch überrannt wurde mit einer anderen Art von Aufmerksamkeit, einer dezidiert deutschen, die mich zeitlich und inhaltlich anders einordnet, mich und meine Arbeit als jünger einschätzt, als ich es bin und mich in einen Kontext steckt, aus dem ich gar nicht komme. Ich sehe mich zum Beispiel nicht in einem antirassistischen oder überhaupt deutschen Kontext, das war nie meine Arbeit. Jetzt auf einmal dort verortet und darauf reduziert zu werden, weil Diversity und Dekolonialität Trends sind, das stört mich. Ich bin seit 2004 an der tamilischen Sache beteiligt, immer als Teil eines kollektivistischen Kampfs, wo das Individuelle nie in den Vordergrund trat.

Ihnen gefällt es also nicht, wie Sie wahrgenommen werden?

Ich empfinde heute eine Art Entfremdung von der Rezeption meiner Arbeit, weil mich die Menschen bizarr einordnen, mich auf die fragwürdige App Instagram reduzieren und immer wieder das, wofür ich mich eigentlich einsetze, auslassen. Das ist verletzend. Unser Kampf ist für sie leicht zu ignorieren. Ich möchte mich aber nicht Thematiken anbiedern, die hier besser funktionieren. Dem verweigere ich mich, weil ich daran festhalten will, was mir wichtig ist: unsere Befreiung.

Was hat aus Ihrer Sicht zu dieser neuen Nachfrage Ihrer Person geführt?

Tendenziell ist das Interesse an mir immer dann gewachsen, wenn ich Themen angesprochen habe, die die Gesellschaft hier als relevant empfand. Jedes Mal, wenn ich über lokale politische Fragen spreche, erreicht es ein anderes Publikum. Das sehe ich auch an den Klicks und Views, letztlich auch an den Verkaufszahlen. Daran wird erkennbar, wie selbstbezogen die Menschen sind. Wie schwierig das Konzept der Empathie ist. Diese Dynamik versuche ich aber auch immer wieder auszunutzen, um die Aufmerksamkeit auf das eelam-tamilische Thema umzuleiten.

Funktioniert das?

Wahrscheinlich nicht so gut, wie ich es mir wünschen würde. Aber ich versuche mich damit selbst daran zu erinnern, woher ich komme – was mich politisiert hat. Es war nicht Deutschland. Mich hat der deutsche Rassismus nicht politisiert. Meine politische Bildung hat sich nicht an deutschen Erfahrungen orientiert. Mich haben die Kastenpolitik, der Völkermord an den Eelam-Tamil*innen und die Zerstörung, die in ihnen immer noch weiterlebt, politisiert. Deutschland war für mich politisch eine Randerscheinung. Mein Zentrum lag und liegt woanders.

Und gleichzeitig erreichen Sie mit Ihrer Online-Präsenz, die sich ein Stück weit auch um Ihre Person dreht, enorm viele Leute. So funktioniert schließlich die Logik der sozialen Medien …

Basisarbeit ist für mich wichtiger. Ich merke, dass ich in der eelam-tamilischen Arbeit eine gewisse Stellung habe, weil ich dort schon so lange aktiv bin. Der Online-Aktivismus ist häufig entkoppelt von der materiellen Welt, in der wir leben. Dennoch ist für mich das Medium ein interessantes Werkzeug, weil klassischere Politikformate und -trainings viele Menschen ausschließen.
Ich habe mich schon immer gefragt: Wie kann es sein, dass eine Gruppe, die so von politischer Gewalt geprägt wurde wie wir, so viele apolitische Menschen produziert? Wie ist es möglich, diese Menschen nachhaltig politisieren? Ich will diejenigen erreichen, die denken, politische Bildung sei nicht für sie.
Ich sehe mich manchmal in einer Art Rattenfänger*innenposition, in der ich Menschen, die sich normalerweise nicht für solche Themen begeistern, mit einer fürs bloße Auge angenehmeren Ästhetik genau in diese Themen locke. Politik muss nicht immer auf die gleiche uniforme Art kommuniziert werden. Die ästhetische Strenge, in der linke Politiken oft kommuniziert werden, finde ich nicht immer zeitgemäß.

¹ Das Wort »man« stammt ursprünglich von »Mann« ab, was dem Begriff »Mensch« gleich galt. Mit »man*« sollen alle Geschlechter explizit mitgenannt werden.
² Tamil Eelam ist eine Bezeichnung für den von der tamilischen Befreiungsbewegung geforderten Staat, der den Nord- und Ostteil Sri Lankas umfassen soll.

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