Peter Wawerzinek: Kindheit, Suff, Krankheit, Glück

Die »Letzte Buchung« des Mecklenburger Schriftstellers Peter Wawerzinek: Gedichte ohne Kompromisse

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Kein unbeschriebenes Blatt: Peter Wawerzinek liest einen Text.
Kein unbeschriebenes Blatt: Peter Wawerzinek liest einen Text.

Lyrik-Debütanten sind heutzutage meist Mittzwanziger, gerade mit der Schreibschule fertig. Bis zu Peter Wawerzineks erstem Gedichtband hat es beinahe 70 Jahre gedauert. Als die DDR noch jung war, kam er unter dem Namen Peter Runke auf die Welt; die Eltern verschwanden vor dem Mauerbau in den Westen und ließen ein Kleinkind allein in der Wohnung in Rostock zurück. Peter kam in Heimen unter, wurde adoptiert, umbenannt. Wenn man die Leute aus dem Prenzlauer Berg nach ihm fragt, die ihn schon kannten, bevor er als Bachmann-Preisträger 2010 berühmt wurde, sprechen fast alle von Schappi.

Schappi war anti Wasserglaslesung, für die Deklamation seiner kräftigen Texte zumindest in Berlin berühmt. Kleine Verlage druckten etwa die geniale Prosa »Nix« (Produzentenverlag Warnke & Maas, 1990): Da geht es um eine Familie, die am Schrottplatz wohnt und selber auseinanderfällt. In einem andern Buch, »Es war einmal …« (Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße, 1990) parodiert er genau, aber nicht garstig die Stile bekannter Literaten der DDR.

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Dann gewinnt Wawerzinek mit einem Auszug aus seinem Roman »Rabenliebe« das Klagenfurter Wettlesen. Weitere Auszeichnungen folgen, kurze Fernseh-Features der Öffentlich-Rechtlichen entstehen, in denen eine sonore Stimme fünf Minuten einen Lebensweg zusammenfasst, während der Künstler still über Pfade streicht. Als Stipendiat der Villa Massimo erlebt Wawerzinek die ersten Lockdowns, fährt dann Rad im Vatikan. Er übersteht eine Krebs-OP, lebt mittlerweile in Magdeburg.

Erstmals erscheinen nun von ihm selber so bezeichnete Gedichte, und zwar im Schweizer Verlag Roughbooks, wo auch Bände des kürzlich verstorbenen Bert Papenfuß veröffentlicht wurden. Knapp 60 Gedichte umfasst die »Letzte Buchung«. Die meisten sind kurz, teils nur zweizeilige Sentenzen. Es geht um Kindheit, Suff, Krankheit, Glück. Drei Bilder und ein Urteil wiederholen sich mehrmals im Band: »Das leise Klöppeln in/ den Rohren. Und spät in der Nacht Stöhnen./ Vom Himmel eine monotone Gereiztheit:/ Wir wollen dich hier nicht haben.« Ankommen verboten.

Die Ruhelosigkeit des Fortgeschickten lässt ihn die Welt als belebte Umgebung, freundliche wie feindliche, wahrnehmen: Alles ist in Bewegung, alles reagiert irgendwie, wenn einem nicht Hören und Sehen vergangen ist, weil man zu den Ausgebufften mit festen Posten gehören wollte. Ein Außenseitertum ohne Heroismus oder Hohn könnte man die Perspektive dieser Texte nennen.

Man bleibt beim Lesen immer wieder haften. Die Verse sind auf besondere Art einfach und frei, keine kalkulierten Spracheskapaden mit der Bitte, Tiefsinn zu unterstellen. Die zwei Zeilen »Ganz Amerika bestand aus Rasenmähern./ Die bettelten: Nimm uns wie wir sind.« zeigen den kümmerlichen Animismus der kurz geschorenen Warenwelt: eine treffende Beobachtung an banalen Dingen außer Gebrauch, ungeliebten Versprechen.

Öfter finden sich komische Szenen aus der Kindheit. In ganz leichter Weise aufgeschrieben, wirkt Folgendes wie ein verwunschenes Protokoll, trotzt formal möglicher Melancholie im Inhalt: »Am dritten Tage wurden wir ergriffen./ Der Greifer hieß Jochen. Jochen war Polizist./ Er legte uns an Ketten. Wir lebten in/ einer Hundehütte. Die Frau des Greifers/ hieß Inge. Sie steckte uns Schokolade ins/ Hackfleisch. Mehr an Geste durfte sie/ nicht ausrichten.« Der hier spricht, war mit dem großen Bruder von zu Hause ausgebüxt, blieb erfolglos, aber immerhin bringt er ein Gedicht mit.

Ein Bildungsroman in neun Versen namens »Zusatz« lautet so: »Mein Lehrer schlug mir ins Gesicht/ als ich ihm den Hang zum Faulsein/ gestand. Hab Nachholstunden in/ Kneipen abgesessen. Verfiel dem/ charmanten Gerstensaft in den rauchigen/ Horten. Hab Prosa aufgeschnappt. Mund/ Geruch, Kopfschmerz, Stuss erlitten./ Das sind die Unglückspfennige,/ die ich gerne zahlte.« Anti-larmoyanter kann man von Gewalt in der Schule und Alkoholismus nicht schreiben.

Eigen sein, ohne dabei zur Marke zu werden. An falscher Stelle klingt es bescheuert, von »charmantem Gerstensaft« oder »Unglückspfennigen« zu reden. Aber Wawerzineks Lyrik versöhnt verschiedene sprachliche Register, macht ungezwungene grammatische Normabweichungen zu Gedichten, die vollständig stimmen. Nie kommt der Eindruck auf, hier wurde etwas mühevoll aufs Äußerste reduziert, um sich ja nicht an der heiligen Sprache zu vergehen.

Selbstbestimmte Gelassenheit zeichnet die »Letzte Buchung« aus. Das Gedicht mit dem Titel »Mein Ich« mündet in ein kleines Lied: »Sonntagmorgen kurz vor acht/ bin ich tatentoll erwacht/ hab mich an kein Werk gemacht/ nicht Laub geharkt den Rasen nicht/ zu Heu gewendet/ Nur bei der Birke gelegen mit/ Beruhigungstee in der Kanne/ Haferflockenbrei in der Tasse/ auf der Terrasse von/ Licht umgarnt.« Die Dinge dienen dem schönen Tag. Wenn die Tage grau und kalt werden, empfiehlt es sich, Wawerzineks »Letzte Buchung« in der Tasche zu haben.

Peter Wawerzinek: Letzte Buchung. Roughbooks, 66 S., br., 8 €.

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