Hisbollah: Zwischen Waffen und Wohlfahrt

Im Süden Libanons rumort es schon, aber noch scheint die schiitische Hisbollah stillzuhalten

  • Lena Paulus, Sour (Libanon)
  • Lesedauer: 6 Min.

Samstagmittags ist die Stimmung in Sour euphorisch. Im alten Souk der kleinen Stadt im Süden Libanons verteilen Ladenbesitzer Süßigkeiten und gratulieren sich gegenseitig. »Glückwünsch zur Intifada!« wünschen sich die Menschen den ganzen Tag über zur Begrüßung. Eine Gruppe etwa 20 junger Männer fährt hupend und jubelnd auf Motorrollern durch die Stadt. Sie halten Palästinafahnen in der Hand – und Flaggen der islamistischen Hamas, die wenige Stunden zuvor aus Gaza heraus einen nie dagewesenen Großangriff auf die umliegenden israelischen Gebiete begonnen hatte.

Eigentlich ist der Ort direkt am Meer gerade erst wieder zur Ruhe gekommen. Die Massen an Touristen, die jeden Sommer ihren Urlaub hier verbringen, sind vor wenigen Wochen abgeebbt. Jetzt liegt wortwörtlich wieder Krieg in der Luft. Am Sonntag waren erste Auseinandersetzungen zwischen Hisbollah, die den Süden Libanons kontrollieren, und Israel an der 30 Kilometer entfernten Grenze zu hören: Das Surren israelischer Helikopter und Beobachtungsdrohnen in der Ferne, gefolgt von Detonationen durch den gegenseitigen Beschuss mit Kurzstreckenartillerie.

Obwohl die Lage angesichts der Entwicklungen in Israel und Palästina weiter zu eskalieren droht, wirken die meisten Bewohner der Stadt gelassen. »Angst? Warum sollten wir Angst haben? Wir sind all das schon so lange gewohnt,« erzählt eine alte Frau am späten Sonntag, die wie jeden Abend Shisha rauchend vor ihrem Haus in der Altstadt sitzt. »Sollen sie ruhig kommen! Wir setzen uns an den Strand und schauen dem Feuerwerk zu«.

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Fast alle, mit denen man spricht, erinnern sich an vorangegangene Kriege mit Israel, etwa 1982: Der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon marschierte während des libanesischen Bürgerkrieges im Süden ein und drang bis nach Beirut vor. Kamel Jaafar*, der in Sour aufgewachsen ist, erzählt, »es hagelte israelische Bomben rechts und links, mein Bruder operierte damals die Verletzten, obwohl er noch nicht einmal sein Medizinstudium beendet hatte. Ich war gerade 17 Jahre alt.« Ein Restaurantbesitzer in der Altstadt erinnert sich an 2006, als Israel erneut versuchte den Süden zu befallen, nachdem Hisbollah zwei israelische Soldaten gekidnappt hatte. »Ich war zehn Jahre alt. Das vergisst man nicht so schnell.«

Selbstverständlich sehe sich die Bevölkerung im Süden auf der Seite der Palästinenser und nimmt Israel als einen Feind wahr, erklärt Hassan Nasr Eldin*, ein politischer Aktivist aus Beirut, dessen Familie auf dem Süden stammt. »Schließlich haben sie mehrere Kriege mit Israel selbst erlebt – bis heute besetzt Israel libanesische Dörfer hinter der Grenze«, so Nasr Eldin. »Die Menschen hier verstehen, was in Palästina passiert, als einen glorreichen Akt des Widerstandes nach Jahrzehnten israelischer Unterdrückung.«

Seit ihrer Gründung unmittelbar nach Israels erster Landinvasion Libanons 1982 konnte sich die schiitische Partei Hisbollah, gestützt durch den Iran, immer stärker im Süden etablieren – als alleiniger Beschützer der Bevölkerung vor Israel und Befreier der besetzten libanesischen Dörfer. Warum, erklärt nur ein Blick in die Vergangenheit.

Nach Ende des Libanesischen Bürgerkriegs 1990 wurden alle Kriegsparteien bis auf Hisbollah demilitarisiert. Das hatte das Iran-nahe Syrien entschieden, das nach dem Krieg bis 2005 die Kontrolle über den Libanon übernahm. Dadurch wurde Hisbollah zur einzigen bewaffneten Kraft im Libanon neben dem libanesischen Militär und zur einzigen Gruppe, die es sich zum Ziel machte, die im Bürgerkrieg von Israel besetzten libanesischen Dörfer südlich von Sour zu befreien.

Genau das gelang Hisbollah im Jahr 2000 zumindest teilweise, als die Gruppe einige der libanesischen Dörfer zurückerobern konnte – bis heute sind Gebiete besetzt. 2006 gewann Hisbollah weiter an Autorität, nachdem die Gruppe den Versuch einer israelischen Invasion abwehren konnte. »Natürlich stehen die Menschen hier hinter Hisbollah«, erzählt Kamel Jaafar*, »der Großteil der Bevölkerung ist religiös, aber Hisbollah sind auch die einzigen, die sie vor einer erneuten israelischen Invasion beschützen können.« Die Regierung in Beirut, so Jaafar, interessiere sich seit jeher nur wenig für den Süden.

Darüber hinaus konnte sich Hisbollah über die Jahrzehnte als Helfer der Bevölkerung positionieren. »Wie jede Mafiagruppe sorgt Hisbollah für ihre Leute. Sie verteilen Essen an Arme und bieten vielen Menschen sichere Arbeitsplätze.« erklärt Nasr Eldin.* Deshalb wird Hisbollah häufig als Staat im Staat bezeichnet. Neben ihren militärischen Strukturen verfügt die Gruppe auch über eine komplexe Infrastruktur an eigenen Schulen, Krankenhäusern, Baufirmen und anderen Unternehmen. »Alle, die Mitglied der Partei sind, können dort arbeiten, Frauen wie Männer«, so Nasr Eldin – ein wichtiger Anreiz in der enorm prekären wirtschaftlichen Lage des Libanons.

Ein weiterer relevanter Faktor ist die palästinensische Bevölkerung im Süden Libanons. In der Region verteilt befinden sich sogenannte Camps, wo sich Tausende Palästinenser angesiedelt haben, die während der Nakba beziehungsweise der Staatsgründung Israels durch militante israelische Siedler vertrieben wurden.

Insbesondere vom Süden aus agieren seither palästinensische Befreiungsbewegungen wie etwa die linke Palästinensische Befreiungsfront PFLP, oder islamistische Gruppierungen wie der Islamische Dschihad und auch Hamas, deren Mitglieder seit den 70ern immer wieder versuchen, Israel aus dem Libanon anzugreifen und so für Spannungen an der Grenze sorgen. Für gewöhnlich spielen diese nur noch eine marginale Rolle im Süden – immer mal wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen ihnen, wie vor einigen Wochen in einem Camp in Saida, wenige Kilometer nördlich von Sour.

Die ersten Auseinandersetzungen an der israelisch-libanesischen Grenze am Samstag wurden durch Mitglieder des Islamischen Dschihad getriggert, die kurz nach Beginn des Hamas-Israels Krieges aus dem Libanon nach Israel eindrangen und unmittelbar durch das israelische Militär erschossen wurden. Zwar behauptete Hisbollah, damit nichts zu tun zu haben. Dass jemand ohne das Wissen Hisbollahs durch die Grenze kommt, ist allerdings unwahrscheinlich.

Darauf folgten immer wieder gegenseitige Angriffe, bei denen Soldaten beider Seiten ums Leben kamen. Bisher begrenzt sich der Beschuss, der sich bis Mittwochnachmittag zog, noch auf das unmittelbare Grenzgebiet. Israel wird es aufgrund der militärischen Herausforderung im Süden des Landes kaum auf eine Eskalation im Norden ankommen lassen. Auch Hisbollah signalisiert bisher nur vorsichtig, dass sie zu einer bewaffneten Auseinandersetzung grundsätzlich bereit sind. Angreifen werden sie nur dann, wenn Israel libanesisches Gebiet über die Grenze hinaus beschießt, verkündete ein Hisbollah-Sprecher am Sonntag.

Sollte Israel allerdings eine Bodenoffensive in Gaza starten, könnte Hisbollah darin eine klare Überschreitung einer roten Linie sehen und als Antwort selbst in die militärische Offensive gehen. Aus Hisbollah-Kreisen werden außerdem Forderungen laut, die bisher mindestens drei getöteten Soldaten mit einem Angriff zu rächen. »Große Teile der Bevölkerung im Süden würden sie darin wohl unterstützen« so Nasr Eldin, »viele Hisbollah-Anhänger warten seit 2006 auf einen Krieg mit Israel. Sie bereiten sich seit vielen Jahren genau auf dieses Szenario vor.«

*Alle Namen wurden redaktionell geändert.

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