Wettlauf gegen das Artensterben

Laut dem Statusbericht zur Vegetation weltweit sind 45 Prozent der bekannten Blütenpflanzen bedroht

Die wissenschaftlich neu entdeckte Palmenart Pinanga subterranea gedeiht unterirdisch.
Die wissenschaftlich neu entdeckte Palmenart Pinanga subterranea gedeiht unterirdisch.

Pinanga subterranea lebt, wie der lateinische Name schon sagt, im Untergrund. Die von Wissenschaftlern kürzlich erstmals beschriebene Palmenart, die im Regenwald auf der Insel Borneo entdeckt wurde, lebt komplett unter der Erde. Für die Fachleute gibt sie Rätsel auf, denn es ist bisher unerklärlich, was die Palme bestäubt und wie der Bestäuber die Blüten unter der Erde findet. Verschiedene indigene Gemeinschaften in Malaysia und Indonesien haben der Pflanze in ihren Sprachen übrigens schon vor langer Zeit Namen gegeben; die in reifer Form roten, süßlich schmeckenden Früchte werden hier als Snack gegessen.

Unter Biologen ist die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit mit der indigenen Bevölkerung schon länger ein Thema. Auch deshalb, weil die Suche nach bisher unbekannten Pflanzen einem Wettlauf gegen die Zeit gleicht. Seit dem Jahr 2020 wurden fast 19 000 neue Pflanzen- und Pilzarten benannt, wie es im »Statusbericht Pflanzen und Pilze der Welt 2023« heißt, dessen Ergebnisse bei einem noch bis Freitag laufenden dreitägigen Fachsymposium vorgestellt und diskutiert werden. Aber drei von vier wissenschaftlich bisher unbeschriebenen Pflanzenarten sind bereits vom Aussterben bedroht, schätzen die Forscher.

Der Kew-Bericht ist der erste vollständige Katalog von bisher über 350 000 bekannten Pflanzenarten und ihres Verbreitungsgebietes. In Fachkreisen ist die Rede vom »entscheidenden ersten Schritt zur Dokumentation des Lebens auf der Erde«. An der umfangreichen Datensammlung und Auswertung von Studien haben 200 Wissenschaftler aus 30 Ländern auf allen Kontinenten mitgewirkt. Herausgegeben wurde sie von Kew Gardens, den im Südwesten Londons angesiedelten Königlichen Botanischen Gärten. Kew besteht nicht nur aus großflächigen Parkanlagen mit sehr alten Rhododendrongewächsen und viktorianischen Gewächshäusern, sondern beherbergt auch eine Forschungseinrichtung und die »Millennium Seed Bank«: In der ständig erweiterten weltgrößten Saatgutbank für seltene, bedrohte und bedeutende Wildpflanzen finden sich mittlerweile mehr als 40 000 Arten.

Laut dem Statusbericht sind auch rund 45 Prozent der bekannten Blütenpflanzen vom Aussterben bedroht. Als Hotspots genannt werden darin Inseln wie Hawaii, Madagaskar, Neukaledonien, Borneo und die Philippinen. Das Verständnis des Aussterbens sei »von entscheidender Bedeutung für die Erhaltung der biologischen Vielfalt«, schreiben die Autoren. Arten zu verlieren, bevor sie den formalen Identifizierungsprozess durchlaufen haben, würde bedeuten, »das gesamte Potenzial dieser Art zu verlieren«, sagt Matilda Brown, Naturschutzanalsystin bei Kew. »Wir könnten die Hälfte unserer zukünftigen Medikamente verlieren, wenn solche Verluste eintreten«, warnt sie. »Die Menschen nehmen das Aussterben nicht ernst genug.«

Pflanzen sterben aktuell 500-mal schneller aus als vor der Existenz des Menschen, heißt es in einer in dem Statusbericht ausgewerteten Studie. Außerdem sterben Pflanzen, die in jüngerer Zeit beschrieben werden, doppelt so schnell aus als jene, die vor 1900 beschrieben wurden. Aufgrund dieses Tempos fordern die Kew-Forscher, dass alle neu entdeckten Arten etwa auf der Roten UN-Liste zunächst als bedroht eingestuft werden, bis das Gegenteil belegt ist. Diese formale Einstufung ist nämlich Voraussetzung dafür, dass Ressourcen für den Schutz der Arten bereitgestellt werden.

Als größte Bedrohungen für die Biodiversität nennt der Bericht die veränderte Landnutzung für Landwirtschaft, Städteentwicklung, Straßen- und Bergbau. Hinzu kämen die Folgen des Klimawandels, die direkte Überausbeutung von Pflanzen und invasive Arten. Was zu tun ist, sei klar: Klima- und Naturschutz sowie die Wiederherstellung der Natur.

Der Statusbericht ist nicht nur ein Sammelsurium für Fachleute, sondern er hat auch politische Bedeutung. Das Thema Artenschutz drängt zunehmend auf die Bühne der internationalen Umweltdiplomatie. Ende 2022 wurde auf UN-Ebene ein Rahmenwerk verabschiedet, das dieses Ziel erstmals völkerrechtlich verbindlich macht. Bis 2030 sollen 30 Prozent der Landfläche weltweit unter Naturschutz gestellt werden, allen voran Gebiete mit einem besonderen Reichtum an Biodiversität.

»Die Verbesserung unseres Verständnisses der Pflanzen- und Pilzvielfalt ist von entscheidender Bedeutung, um die ehrgeizigen Ziele und Vorgaben zu erreichen«, sagt Alexandre Antonelli, Wissenschaftsdirektor von Kew Gardens. »Es wird immer wichtiger zu verstehen, wo Schutz- und Erhaltungsbemühungen Priorität haben sollten.«

Es geht also um die Frage, was eigentlich die richtigen 30 Prozent sind. Um diese zu identifizieren, sind gerade die noch wissenschaftlich unbekannten Arten von großer Bedeutung, meinen die Autoren des Statusberichts. Anders als bisher üblich sollte die Ausweisung vorrangiger Schutzgebiete die Besonderheit von Pflanzen und die phylogenetische Vielfalt berücksichtigen. Der Statusbericht identifiziert insgesamt 32 »Darkspots« der Biodiversität – Gebiete, in denen Pflanzen stark endemisch, aber unzureichend dokumentiert sind. Diese fänden sich insbesondere in Kolumbien, im Süden Zentralchinas und auf der zweitgrößten Insel der Welt, Neuguinea.

Eine noch unbekanntere Welt ist hingegen die der Pilze, auch Funga genannt. Die Kew-Forscher gehen davon aus, dass Pilze, die sich an Pflanzenwurzeln festsetzen, jedes Jahr fast 13 Milliarden Tonnen CO2 aus der Atmosphäre entfernen, was etwa einem Drittel der jährlichen Emissionen fossiler Brennstoffe entspreche. Obwohl der Klimawandel auch für die Funga schädliche Auswirkungen hat, dürften bisher weniger als ein Prozent der bekannten Arten vom Aussterben bedroht sein. Alle diese Schätzungen sind indes mit Unsicherheiten behaftet, wie die Forscher einräumen. Es sei davon auszugehen, dass es zwei bis drei Millionen Pilzarten gibt, von denen mehr als 90 Prozent erst noch von Wissenschaftlern gefunden und beschrieben werden müssen.

Darunter dürften sich auch zahlreiche potenzielle Hoffnungsträger befinden wie Pandora cacopsyllae. Dieser vor einigen Monaten in Dänemark gefundene Pilz befällt Blattflöhe und tötet sie ab. Wissenschaftler untersuchen gerade, ob der parasitische Pilz auch anderen im Obstbau gefürchteten Schädlingen den Garaus machen und so als Ausgangsstoff für umweltfreundliche Pflanzenschutzmittel dienen könnte.

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