Bernie Sanders: Klassenpolitik als Selbstverständlichkeit

US-Senator Bernie Sanders – der bekannteste Sozialist der USA – stellt in Berlin sein neues Buch vor

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 5 Min.

»Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein« – aus dem Titel des neuen Buchs von US-Senator Bernie Sanders spricht die Autorität einer moralischen Führungsfigur. Die Formel bringt das Talent des 82-jährigen Politikers auf den Punkt: Sanders eröffnet diskursive Räume für die Linke, die ihr normalerweise verschlossen bleiben, vor allem in der US-Medienlandschaft. Und er artikuliert die Frustration der Menschen auf eine Art und Weise, die größere Zusammenhänge greifbar macht. Vor dem Berliner Publikum im ausverkauften Haus der Kulturen der Welt zeigte sich am Donnerstagabend, dass diese Formel weiterhin funktioniert.

Doch Sanders sorgt auch immer wieder für Kontroversen. SPD-Chefin Saskia Esken sagte eine ursprünglich geplante Teilnahme an einem Empfang mit dem Senator aus Vermont am Rande der Veranstaltung ab, nachdem dieser eine Stellungnahme zum Angriff auf Israel und zur Situation in Gaza veröffentlicht hatte, in der er das Vorgehen beider Seiten kritisiert und die Blockade des Gazastreifens samt Einstellung der Strom- und Wasserversorgung als »schweren Bruch internationalen Rechts« bezeichnet hatte. Sanders hätte die Chance gehabt, »seine früheren Relativierungen aufzugeben und sich klar an die Seite Israels und gegen den Terror der Hamas und anderer zu stellen«, so Esken.

Gleich zu Anfang der Veranstaltung erklärte Sanders, die Taten der Hamas seien »unbeschreiblich« und würden nicht in Vergessenheit geraten. »Israel hat jedes Recht der Welt, energisch auf diese Angriffe zu reagieren«, betont Sanders. Er mache sich aber Sorgen um die Konsequenzen der aktuellen Entwicklung. »Extremisten, Leute auf beiden Seiten, die an Gewalt glauben, werden profitieren.« Sanders, einer der prominentesten jüdischen Politiker der USA, hat die Hoffnung auf eine Deeskalation im Nahostkonflikt offenbar noch nicht aufgegeben, im Kontrast zu anderen Stimmen im US-Politikbetrieb, wie etwa sein Kollege im Senat Lindsay Graham aus South Carolina, der nach dem Angriff forderte, Gaza »dem Erdboden gleichzumachen«.

Als er auf die US-Innenpolitik zu sprechen kommt, wird Sanders lebhafter. Er sehe eine »Revitalisierung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung« im Gange, nachdem die Reallöhne jahrzehntelang geschrumpft seien. Der jüngste Arbeitskampf der Autogewerkschaft UAW sei dafür beispielhaft. »Die Probleme, die wir in der amerikanischen Autoindustrie durch die Gier der Konzerne haben, sind die gleichen wie in anderen Teilen der Wirtschaft«, meint Sanders. Aber auch die Beschäftigten von Starbucks, Lehrbeauftragte an Universitäten und Krankenpfleger kämpften für bessere Arbeitsbedingungen und gewerkschaftliche Repräsentation.

»Gier« ist der Schlüsselbegriff, mit dem Sanders die zunehmende ökonomische Ungleichheit in den USA erklärt. Auch die Inflation in den USA sei darauf zurückzuführen, dass Konzerne in der Krise ihre Marktmacht ausnützten. Dies mag hinter eine abstrakte Analyse des Kapitalismus zurückfallen, worüber manche Linken auf beiden Seiten des Atlantiks die Nase rümpfen dürften. Doch Sanders Beliebtheit war schon immer verbunden mit dessen moralischen Appell, die ökonomischen Zustände nicht unwidersprochen hinzunehmen. »Ist es nicht unglaublich, wie gierig diese reichen Leute sind?«, habe ihm eine Flugbegleiterin einmal zugeraunt.

Sanders artikuliert wie kein zweiter US-Spitzenpolitiker das latente Bewusstsein der US-Arbeiterklasse in einer politischen Kultur, die über Klassenfragen lieber schweigt. Er nutzt diesen Ausgangspunkt, um eine Erzählung zu entwickeln, die von einem besseren Amerika handelt, wie es einst unter Franklin D. Roosevelt möglich erschien, der zu Hochzeiten des New Deal den Hass des Großkapitals willkommen hieß. Hätte man Menschen auf der Straße gefragt, welche Partei die Arbeiterklasse repräsentiert, wäre die Antwort vor einigen Jahrzehnten klar ausgefallen, so Sanders. Die Demokraten hätten sich aber von den Spendengeldern der Konzerne abhängig gemacht und Politik in deren Interesse gemacht. Sanders, der formal als Unabhängiger im Senat sitzt, in die Parteistrukturen inzwischen aber recht eng eingebunden ist, hält diese Entwicklung offensichtlich für umkehrbar. 1991 habe er mit einer Handvoll Gleichgesinnter den »Progressive Caucus«, einen linken Zusammenschluss im US-Repräsentantenhaus, gegründet. Heute habe dieser über 100 Mitglieder.

Auf die Frage, ob der Kapitalismus letztlich überwunden werden müsse – eine Ambition, die die Demokratische Partei nie hatte –, antwortet Sanders, es sei notwendig, das System zu reformieren und gleichzeitig an einer Alternative zu arbeiten. Letzteres dürfte eher ein sehr fernes Ziel sein. Dazu beigetragen hat sicher auch, dass Sanders’ Präsidentschaftskandidaturen in den Vorwahlen der Demokraten von 2016 und 2020 in Niederlagen endeten. Dafür macht der Senator auch seine parteiinternen Gegner verantwortlich. Nach seinen Erfolgen in Iowa, New Hampshire und Nevada hätten diese für eine Konsolidierung um die Kandidatur von Joe Biden gesorgt. »Das ist das demokratische Establishment in Aktion«, so Sanders.

Dennoch hat sich Sanders klar für die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Demokraten entschieden, weshalb er auch keine weitere Präsidentschaftskandidatur anstrebt. »Joe Biden ist Präsident«, stellte Sanders fest, als sei dies eine Tautologie. Die Gefahr für die US-amerikanische Demokratie durch eine Rückkehr von Donald Trump ins Präsidentenamt sei real. Um diese zu verhindern, sei ein breites Bündnis notwendig, das »primär aus arbeitenden Menschen« bestehen, aber auch Republikanerinnen und Wechselwähler einschließen müsse, die Trump ablehnen und den Angriff der Republikaner auf reproduktive Rechte ablehnen. Zu den kritikwürdigen Aspekten von Bidens Regierungsarbeit – vom Verbot des Eisenbahnerstreiks bis zur Asylpolitik – stellte Sanders’ Gesprächspartnerin Jana Pareigis keine Nachfragen.

Angesprochen auf die Erfolge der AfD in Deutschland betont Sanders, um die extreme Rechte zu besiegen, sei es notwendig, die eigene Komfortzone zu verlassen. »In Amerika sind wir nicht gut darin, und ich bin mir nicht sicher, dass ihr in Europa besonders gut darin seid.« Sanders sucht den materiellen Konflikt, aber nicht die gesellschaftliche Spaltung. Im Haus der Kulturen der Welt stellte er sein Ausnahmetalent als politischer Kommunikator einmal mehr unter Beweis.

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