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Nachruf auf Louise Glück: Licht gebiert die Finsternis
Die Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück ist im Alter von 80 Jahren gestorben
In der einsamsten aller Einsamkeiten nehmen sie ihren Anfang, dort, wo nur eine Maxime gilt: »Verzweiflung ist die Wahrheit«. Und dies seit Anbeginn. Schon mit der Geburt macht sich in eine schier grenzenlose Traurigkeit breit: »Wie schwer es fiel, / am Leben zu sein«. Zwei Tage nach der Bekanntgabe des Todes der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück, liest sich jene elegische Klage aus dem 2021 erschienenen Band »Winterrezepte aus dem Kollektiv« wie eine Vorausahnung. Erkrankt an Krebs, setzte sich die Dichterin in den letzten Jahren immer intensiver mit dem dunkelsten Kapitel des Lebens auseinander. In »Treue und edle Winternacht«, ihrem letzten Buch, begibt sie sich sogar auf eine Reise ins Jenseits, um noch einmal ihre Eltern zu sehen. Es war ein Vortasten ins Ungewisse, mit ernüchterndem Fazit, denn »ringsum spornten mich die Toten an, doch die Freude, sie zu finden, wurde von der Pflicht, ihnen zu antworten, erstickt«.
Zweifelsohne lässt sich das Werk dieser stets mit beklommener Ehrlichkeit schreibenden Poetin in die jahrhundertealte Traditionslinie der Melancholielyrik einordnen. Sie zelebriert die Nacht und den Weltschmerz, reicht von der Verklärung der Seelenverstimmung in der Romantik bis hin zur völligen Verfinsterung im 20. Jahrhundert im Schatten zweier Weltkriege. In unseren Tagen fand die 1943 in New York City geborene Autorin mit dem Klimawandel noch eine ganz andere, sie massiv prägende Menschheitskrise vor. »Zeit verging, verwandelte alles in Eis«, prophezeit sie in einem Gedicht, »unter dem Eis regte sich die Zukunft.« Solange sie noch nicht aufgetaut ist, kann die Dichtungen zumindest einen Beitrag für die Gegenwart leisten. Wo nämlich die reale Umweltzerstörung unwiderrufliche Konsequenzen hervorruft, vermag die Poesie die Schönheit der Natur in Versen wie diese zu bewahren: »Die Wolken schienen / zu verharren, wo sie waren, / wie ein Gemälde des Meers, stiller als wirklich.«
Und so bahnen sich aus dem bewährten poetischen Blues immer wieder auch helle Töne Raum. Sie rühren von der Sehnsucht her, zeugen trotz so mancher Beklemmung, die Glück wohl auch in einer sieben Jahre andauernden Psychotherapie aufgearbeitet hat, von der Lust, sich voll und ganz ins Dasein zu stürzen. Ein Prosagedicht aus »Winterrezepte aus dem Kollektiv« gibt davon Kunde. Erzählt wird darin von einer Frau, die eine doppelte Trennung hinter sich hat. Zum einen die von ihrem Gefährten, zum anderen ist ihr der Reisepass abhanden gekommen. Da sie innerlich wie äußerlich über keinen Identitätsnachweis mehr verfügt, darf sie nur draußen in der Nähe oder vor den Türen und nicht in einem Hotel wohnen.
Die Wochen und Monate ziehen vorüber und langsam entstehen Beziehungen zu den Angestellten. Auch eine intensive zum Concierge, mit dem das lyrische Ich sich zu Spaziergängen und Gesprächen verabredet. Er rät ihr, sich ihrer Erinnerungen zu bedienen und die vorgegebenen Pfade der Gesellschaft zu verlassen. »Ich merke, sagte er, dass du […] / dich also nicht geradlinig bewegen willst, wie die Zeit / es uns nahelegt, sondern […] / im Kreis, der nach Stille / im Herzen der Dinge trachtet«. Wie in einer Spirale wird sich die Frau daher von der Gegenwart zur Vergangenheit zurückbewegen und – als Autorin – ein Reisetagebuch anfertigen.
Schreiben bedeutet in diesem Fall Rettung, bedeutet, in der Ordnung und Grammatik der Zeichen einen Halt zu finden. Indem Glück überdies mit Formulierungen à la »wie ich schon sagte« oder sich wiederholenden Motiven wie Schnee, Mond und Vogel spielt, stärkt sie überdies das besondere Potenzial der Lyrik. Anders als das Erzählen, das eines Plots bedarf, ermöglicht die Dichtung ein Kreisen, ein stetes Ringen um die passenden Worte. In diesem Bewusstsein erwies sich Glück, Tochter einer russisch-jüdischen Mutter und eines aus Ungarn stammenden Kaufmanns, als eine Wanderin. Sie gab die Suche nach Heil und Erlösung gerade in einer Epoche voller Verwerfungen nie auf.
Statt der – sinnbildlich gesprochen – überlaufenen, touristischen Wege wählte sie die abseitigen Pfade. Wie allein schon die allgemeine Überraschung hierzulande über ihre Prämierung mit dem Nobelpreis im Jahr 2020 zeigte, war Glück seit jeher eine Dichterin der Stille. Abseits von Trubel und Lärm entwickelte sie ein Sensorium für die feinen Regungen des Lebens. Stilistisch bediente sie sich dafür einer strengen Lakonie. Sie schälte förmlich die Sprache, bis nur noch eine umso wirkmächtigere Essenz zurückblieb. Entstanden ist ein Pathos der Reduktion, das anmutige, bisweilen sakral anmutende Verdichtungen des Augenblicks hervorbrachte.
Was ihr filigran-schillerndes Werk insgesamt auszeichnet, ist indes die Begeisterung für das Geheimnis. Nachdem das Genre der amerikanischen Kurzgeschichten sie nachhaltig beeinflusst hat, kennzeichneten ein offener Schluss und schicksalhafte Begebenheiten zumeist auch ihre Texte. So beispielsweise in einem Poem über ein Aufeinandertreffen zweier Menschen in einem Park, die sich vorher nicht kannten und nur vom Zufall zusammengebracht werden. Versehentlich berührt sie seine Hand, »und das Herz springt ihr auf wie die Spieluhr eines Kindes«. Um die Schockverliebten scheint es geschehen. »Und dies erklärt wohl die Musik, die von den Bäumen wundersam herüberklingt« – mit diesem zuversichtlichen Satz klingt Glücks letzter Band »Treue und edle Nacht« (2023) aus.
Wofür die Melodie steht? Darüber schweigt die Miniatur, die noch einmal mit dem Arkanen unserer Existenz spielt. Es wird und soll nicht erforscht werden. Man weiß nur, dass die verborgene Macht über das Dasein irgendwo zwischen Himmel und Erde wirkt. »Wo das eine endet, beginnt das andere […] Lediglich die Mitte ist ein Rätsel«, geisterhaft und luzide wie diese berührende Dichtung, die Glück der Welt hinterlassen hat.
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