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Emmanuel Carrère: Das Chaos bändigen
Eine kollektive Erzählung von Schmerzen, Versöhnung und Verstehen: Emmanuel Carrère schreibt über die islamistischen Attentate in Paris 2015
Aristide und Alice sind Geschwister, er ist Profi-Rugbyspieler, sie Trapezkünstlerin. Am 13. November 2015 haben sie sich zum Abendessen verabredet, im Restaurant »Le Petit Cambodge« in der Rue Alibert. Es ist viel los an diesem Abend in Paris. Die beiden finden keinen Platz und stehen vor dem Restaurant, als um 21.25 Uhr ein schwarzer Seat Leon in der Straße stoppt.
Aristide sieht einen Mann, der aussteigt, mit einer Kalaschnikow, mit der er augenblicklich losballert. Reaktionsschnell reißt er seine Schwester zu Boden und schützt sie mit seinem Körper. Geschrei, Schüsse, Panik, Chaos.
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Dreimal wird Aristide getroffen, er erleidet schwere Verletzungen an der Lunge, am Gehirn, sein rechtes Bein kann später gerettet werden. Auch Alice wird getroffen, zweimal wird ihr Arm noch in der Nacht operiert, weitere fünfmal danach. Die Geschwister überleben die Anschläge, bei denen insgesamt 130 Menschen getötet wurden, an fünf verschiedenen Orten, die meisten bei einem unvorstellbaren Blutbad im Bataclan, wo die Eagles of Death Metal ein Konzert geben.
Aristide wird nie wieder Rugby spieln, Alice kämpft darum, eines Tages wieder am Trapez fliegen zu können, beide sind schwer traumatisiert. Vor Gericht sagt Alice: »Ich habe versucht zu verstehen, was junge Leute dazu bringt, einfach so auf andere junge Leute zu schießen. Ich verstehe es nicht, vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen.«
Die Geschichte der beiden findet sich im Buch »V13« von Emmanuel Carrére. Als »V13« wurde der Prozess gegen 20 Angeklagte abgekürzt. Darunter war nur einer, der direkt an den Anschlägen beteiligt war. Vendredi ist das französische Wort für Freitag. Der Prozess fand zwischen September 2021 und Juni 2022 in einer speziell errichteten weißen »Box« statt, im Herzen der französischen Hauptstadt. Der Schriftsteller Emmanuel Carrére war von Anfang an dabei, jeden Tag hat er die Aussagen und Berichte von 1800 Opfern, Nebenklägern, Zeugen und Polizisten gehört, die Ausführungen von Angeklagten und Anwälten.
Carrére, der den Prozess für die Zeitschrift »L’Obs« begleitet, fragt sich, ob er durchhalten wird. Am 13. Tag, der den Überlebenden und den Opfern aus dem Bataclan gewidmet ist, schreibt Carrére: »Wir haben fast 200 Zeugenaussagen gehört. 80 Nebenkläger sind in den letzten Wochen noch dazugekommen, sie stehen auf einer Warteliste und müssen irgendwann auch noch angehört werden. Wir sind am Ende. Zu viel Leid, zu viel Horror.«
Die Geschichten und Berichte der Opfer, Geschädigten und Zurückgebliebenen, die Töchter, Söhne oder Freunde verloren haben, nehmen einen großen Teil des Buches ein. Auch bei der Lektüre sind sie kaum zu ertragen – im Schlechten wie im Guten. Denn neben dem ungeheuerlichen Horror, der sich in jener Nacht abspielte, zeugen die Geschichten auch von einer schier grenzenlosen Menschlichkeit, wenn man sich im Angesicht des Todes von Fremden umarmen ließ, wenn Männer andere mit ihren Körpern schützten, wohl wissend, dass sie es sein würden, die als Nächstes sterben.
Es gibt auch zwei Väter – einer, der seine Tochter verlor, und einer, dessen Sohn zu den Attentätern gehörte –, die zusammenfinden, miteinander sprechen und darüber ein Buch veröffentlichen. Was ihnen wiederum nicht nur Anerkennung einbringt, sondern auch Unverständnis und Anfeindung – von jenen, denen so viel Menschlichkeit wiederum zu weit geht, was auch, eben, nur menschlich ist.
Damit wären wir beim eigentlichen Thema dieses als Gerichtsreportage betitelten Buches, das zwar Elemente einer klassischen Gerichtsreportage enthält, weil Carrére auch einen Einblick, ein Verständnis dafür schafft, wie solch ein geradezu monströser Prozess abläuft, aber hauptsächlich reflektiert, was Gerechtigkeit für die Opfer und Geschädigten überhaupt bedeuten kann. Wenn man seine Liebsten verloren hat und/oder auch das alte Leben, das durch Verletzungen, Albträume und Traumata in Fetzen gerissen wurde. Bei einem Überlebenden der Anschläge, dem eigentlich 131. Opfer der Anschläge, führen sie sogar zum Suizid.
Carrére ist ein literarischer Ermittler in Sachen Menschlichkeit und in Fragen des Lebens und Überlebens. Und dies unterscheidet ihn von klassischen Reportern. In seinen Büchern gelingt es ihm, große Themen wie Religion, Naturkatastrophen, Psychoanalyse oder Politik mit einer Art autofiktionaler Auslotung des eigenen Selbst zu verquicken und universellen Fragen nach Wahrheit, Versöhnung und Erkenntnis auf den Grund zu gehen.
In seinem letzten Buch »Yoga« verarbeitete Carrére einen persönlichen Zusammenbruch infolge des Attentats auf die Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«, bei dem er einen guten Freund verlor. Dabei stieg er in die Abgründe des eigenen Ichs hinab. In »V13« nutzt Carrére vor allem eine angemessene sprachliche Nüchternheit, um das wiederzugeben, was er hört und sieht.
Wesentlich reduzierter als in seinen anderen Büchern bringt er sich als Person ein. Carrére ist sich als Autor bewusst, dass das Unfassbare fassbarer zu machen, die Leere mit Sinn zu füllen, eine gigantische Aufgabe ist. Das Ringen um dieses Ziel gehört zum spannenden Reflexionsprozess des Buches, den Carrére gekonnt als roten Faden anlegt.
Dazu gehört auch herauszufinden, wie junge Menschen aus Frankreich und Belgien zu Terroristen wurden, wie »diese pathologische Mutation des Islam« sie so vergiften konnte, dass sie bereit waren, andere Menschen zu töten. Die Aufbereitung der Geschichte des jüngsten Islamismus und der Attentäter ist nicht der stärkste Teil des Buches, was mitunter auch daran liegt, dass die Angeklagten sich während des Prozesses weitgehend ausschweigen.
Aber das ist verzeihbar in Anbetracht der großen Leistung von Carrére: eine kollektive Erzählung von Schmerz, Versöhnung und Verstehen zu schreiben. Eine Erzählung, die die Kraft der Befreiung und Versöhnung in sich trägt, um das Chaos, das die Attentate hinterlassen haben, zu bändigen.
Emmanuel Carrère: V13 – die Terroranschläge
von Paris. A. d.Franz. v. Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 275 S., geb., 25 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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