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Israel und Gaza: Empathie für die Opfer zeigen

Peter Ullrich über die Eskalation im Nahen Osten

  • Peter Ullrich
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Soziologe Friedhelm Neidhardt analysierte wesentliche Bedingungen für eskalierende Gewaltprozesse. Dazu gehört unter anderem ein grundlegender Wertekonflikt und das Fehlen maßgeblicher dritter Parteien. Im Prozess der Eskalation kommt es zur selbsttragenden Verstärkung von Perspektivendifferenz: Die Sichtweisen auf das, was passiert, gehen immer weiter auseinander und die Selektivität der Blicke nimmt zu. Das heißt: Es wird immer unterschiedlicher, was die beiden Seiten überhaupt »bemerken«. Am Ende erscheinen auch härteste Maßnahmen gegen die Gegenseite geboten, ja zwingend. Nur teilweise die Perspektive der Gegenseite einzunehmen, wird unmöglich. Eskalation ist auch die Maximierung von Perspektivendifferenz und Minimierung von Empathiefähigkeit.

Jedwede Eskalation im Nahost-Konflikt findet ihre traurige Verdoppelung im Nahost-Konflikt zweiter Ordnung, im Konflikt derjenigen, die aus der Distanz kommentieren, skandalisieren oder sich solidarisieren. Im eigentlichen Nahost-Konflikt ist mit dem offenen Krieg die höchste Eskalationsstufe erreicht. Dazu gehören zuallererst die grausamen Angriffe der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung, die kaum aushaltbare Bilder des Schreckens von Erniedrigung, Folter und Mord über ein offensichtlich unvorbereitetes Israel und mittelbar auch die Weltöffentlichkeit brachten. Dazu gehört aber auch die israelische Reaktion, den Gegner auf eine Art anzugreifen, die eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes im Gazastreifen hervorbringt.

Im Nahost-Konflikt zweiter Ordnung nun vollzieht sich das oben beschriebene. Einige Sympathisant*innen, in einigen Fällen auch von »links«, feiern die Terrorangriffe. Linke Parteien wie La France Insoumise können sich zu keiner Verurteilung der Verbrechen entschließen. Sie müssen schon aktiv die herzzerreißenden Bilder der Mord-, Jagd- und Folterszenen oder die Verzweiflung der Angehörigen ignorieren, um hier etwas Fortschrittliches oder auch nur etwas, zu dem man sich neutral verhalten könne, zu entdecken. Andersherum wird schon der kleinste Verweis auf den Kontext der realen Eskalation als Relativierung oder Verteidigung des Terrors gebrandmarkt, beispielsweise der Hinweis darauf, dass die Taten der Hamas nur teilweise durch deren reaktionäre, islamistische, misogyne und antisemitische Ideologie zu erklären sind und sie auch einen Nährboden in den Ungerechtigkeiten der jahrzehntelangen Besatzung haben. Das Formulieren von solchen analytisch, politisch wie moralisch widersprüchlichen Sichten wird derzeit fast unmöglich. Jede der Seiten im Nahost-Konflikt zweiter Ordnung verlangt – aus ihrer Perspektive nachvollziehbar – Solidarität.

Peter Ullrich

Peter Ullrich, Soziologe und Kulturwissenschaftler, ist Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

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Die tagelange Social-Media-Diskussion über die gemeldete Enthauptung israelischer Babys durch Hamas-Terroristen zeigte die Dynamik dieser Grabenkämpfe. Die jeweiligen Wendungen der Geschichte (erst wahr, dann doch nicht bestätigt, dann eventuell so ähnlich zugetragen usw.) wurden von den Beteiligten dann geteilt, wenn sie ihre Seiten zu munitionieren schienen. Oder: Die abstoßenden Bilder der Süßigkeiten verteilenden Hamas-Sympathisant*innen schienen die diskursive Grundlage für massive Einschränkungen von Grundrechten zu liefern. Demonstrationen gegen die Besatzung und die humanitäre Katastrophe durch die israelischen Angriffe auf Gaza, inklusive solcher von linken Jüdinnen*, wurden unter anderem mit den Begründungen untersagt, dass pro-palästinensische Symbole auftauchten oder Teilnehmende womöglich mit der Hamas sympathisieren werden. Letzteres ist zwar ein ernsthaftes Problem, aber beides kein akzeptabler Grund, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu beschneiden.

Mut machen derzeit nur sehr wenige Dritte, nicht zuletzt aus der israelischen Linken, deren Perspektive und Engagement sich dem Druck entzieht, weiter zu eskalieren, ohne Empathie für die Opfer gleich welcher Herkunft aufzugeben.

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