Nahost-Konflikt: Dem Druck der Straße widerstehen

In einem Balanceakt müssen die arabischen Staaten Solidarität mit den Palästinensern demonstrieren

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 9 Min.

Der Terrorangriff der islamistischen Hamas-Miliz auf unschuldige Menschen hat Israel in eine der schwersten Krisen seit Staatsgründung gestürzt. Nicht nur, dass weit über 1000 Menschen bestialisch, anders kann man es nicht nennen, abgeschlachtet wurden; jetzt befindet sich das Land in einem Krieg, dessen Dauer und Ausgang niemand genau einzuschätzen weiß. Eine der großen Unbekannten in diesem Konflikt sind die arabischen Länder und ihre Reaktionen auf das, was vor ihren Augen abläuft.

In Amman, Tunis, Kairo, Bagdad und Beirut skandieren die Menschen Parolen gegen Israel und fordern, mehr oder weniger direkt, das Eingreifen ihrer Regierungen in diesen blutigen Krieg. Nur ist das für praktisch alle arabischen Staaten der Region ausgeschlossen, steht allenfalls als intellektuelles Gedankenspiel im Raum. Es wäre heute nur schwer vorstellbar und auch zu vermitteln, wenn, sagen wir, die ägyptische Armee plötzlich den Marschbefehl bekäme, in Gaza einzurücken, um die Palästinenser zu verteidigen – gegen eine hochgerüstete israelische Armee. Die beiden Länder haben vor Jahrzehnten Frieden miteinander geschlossen. Will, kann die Regierung in Kairo das leichtfertig aufgeben, allein aus Solidarität mit den Palästinensern?

Die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit haben zwar die Bombardierung Gazas durch Israel verurteilt, mehr aber auch nicht. Bei einem Treffen im Hauptquartier der Arabischen Liga am 11. Oktober in Kairo verurteilten die Außenminister der 22 Mitgliedsstaaten die israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen nach dem Terrorangriff der Hamas-Kämpfer auf Israel und forderten Israel auf, »seine ungerechte Entscheidung, die Strom- und Wasserversorgung in Gaza zu unterbrechen, zu überdenken«. Die Mitgliedsstaaten missbilligten das Töten und Angreifen von Zivilisten auf beiden Seiten, so der stellvertretende Chef der Arabischen Liga, Hossam Zaki. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Ahmed Aboul Gheit, sagte, Gewalt bringe keine Stabilität, sondern führe den Konflikt fort. »Die von den israelischen Besatzungstruppen durchgeführten und vorbereiteten Vergeltungsmaßnahmen werden keine Stabilität bringen, sondern uns in weitere Zyklen von Gewalt und Blut führen.« In der Abschlusserklärung lenken die Mitgliedstaaten den Blick in die Zukunft und sprechen von der Notwendigkeit, »ernsthafte Verhandlungen zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) als dem einzigen und legitimen Vertreter der Palästinenser und Israel aufzunehmen, um einen fairen und umfassenden Frieden zu erreichen«.

Die Organisation der Islamischen Konferenz meldete sich zum Raketeneinschlag beim Ah-Ahli-Krankenhaus zu Wort und beschuldigte Israel der »Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und organisiertem Staatsterrorismus« – obwohl die Schuldfrage nicht endgültig geklärt ist und nicht nur Israel die Gegenseite verantwortlich macht.

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Den starken Worten folgen aber keine Aktionen, denn die beiden Organisationen haben wenig Einfluss. Mehr als Lippenbekenntnisse sind also gar nicht zu erwarten. Aufschlussreicher sind da die Positionen der Mitglieder der Arabischen Liga, insbesondere der Staaten, die rund um den Konfliktherd liegen: Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien, Libanon und, wenn auch kein direkter Nachbar, der Irak. Eine Schlüsselrolle kommt Ägypten und Jordanien zu: Ägypten kontrolliert den einzigen Zugang zum Gazastreifen, der nicht aus Israel in das Gebiet führt, und gilt traditionell als Schwergewicht in der arabischen Welt – eine Rolle, die ihm Saudi-Arabien mit Erfolg streitig zu machen bemüht ist.

Jordanien verbindet eine 100 Kilometer lange, direkte Grenze mit dem von Israel besetzten Westjordanland sowie weitere 240 Kilometer mit Israel. Ein großer Teil der etwa elf Millionen Einwohner Jordaniens sind Palästinenser, nach Schätzungen bis zu drei Millionen. Viele kamen einst als Flüchtlinge und haben auch den jordanischen Pass. Offizielle Zahlen dazu werden nicht erhoben und sind auch ein brisantes Politikum für das jordanische Königshaus, das in der Vergangenheit blutige Konflikte austrug mit der palästinensischen Bevölkerung und militanten PLO-Kämpfern, wie 1970/71 während des sogenannten Schwarzen Septembers. Außerdem ist der jordanische König offiziell Schirmheer der heiligen Stätten in Ost-Jerusalem, auch der Al-Aqsa-Moschee, um die es regelmäßig zu Konflikten mit den Israelis kommt.

Beim Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in der jordanischen Hauptstadt Amman demonstrierte ihr Kollege, der jordanische Außenminister Ayman Al-Safadi, wie die Stimmung im Land ist. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz hielt er die auf dem Rednerpult stehende Wasserflasche hoch und deutete an, dass die Menschen in Gaza wegen der Abriegelung durch Israel kein Wasser mehr hätten. Al-Safadi fürchtet eine Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarländer: »Die Katastrophe wird schmerzvolle Konsequenzen für die Zukunft nach sich ziehen«, diplomatische Bemühungen würden keine Erfolge zeitigen. »Die Entscheidung, den Krieg zu beenden, liegt nicht bei uns, sondern bei Israel«, so Al-Safadi weiter, man müsse alles unternehmen, damit die Waffen schweigen.

Jordanien hat mit Israel 1994 einen Friedensvertrag geschlossen, Ägypten sogar schon 1979 – als einzige der arabischen Staaten. Zwischenstaatliche Kriege hat es seitdem nicht mehr gegeben, aber Frieden zwischen den Menschen in Israel und jenen in Ägypten und Jordanien ist nicht wirklich ausgebrochen. Es sind kalte Friedensverträge, die ausgehandelt wurden, um kriegerische Auseinandersetzungen zukünftig zu vermeiden. Eine wirkliche Annäherung hat es für die meisten Menschen auf beiden Seiten der Grenzen nie gegeben. Auf arabischer Seite sind die Ressentiments groß und die ungelöste Palästinafrage steht weiterhin zwischen den Bevölkerungen. Nach der Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus waren in Amman sofort große Menschenmassen auf der Straße und zogen wütend zur israelischen Botschaft. Die Sicherheitskräfte konnten zwar das Schlimmste verhindern, aber die Stimmung bleibt extrem angespannt. Auch die jordanischen Muslimbrüder sind alarmiert, haben zu einem Marsch an die Grenze zu Israel aufgefordert. Für das jordanische Königshaus und die Regierung kommen diese Tage dem Ritt auf einer Rasierklinge gleich: Sie müssen den Massen zumindest rhetorisch etwas gegen Israel bieten, um nicht als Verräter an der palästinensischen Sache gebrandmarkt zu werden, können es sich aber auch nicht erlauben, scharf gegen Israel zu schießen – weder mit Worten noch mit Waffen. Ein direktes Eingreifen in den Krieg wäre unverantwortlich und mit enorm hohen politischen wie menschlichen Kosten verbunden.

Bei einem Treffen zwischen dem jordanischen König Abdullah II und Ägyptens Staatschef Abdel Fatah Al-Sisi am Donnerstag in Kairo stellten beide klar, dass Israel die Schuld an der derzeitigen Lage trage, weil es den Menschen in Gaza mit den Bombardements eine »kollektive Bestrafung« auferlege für die grausamen Tötungen der Hamas-Kämpfer. Und beide ließen keine Zweifel daran, dass sie eine massive Verschiebung der Bewohner des Gazastreifens ablehnen, auch in Form von Fluchtbewegungen. Abdullah II und Al-Sisi fürchten eine Welle palästinensischer Geflüchteter, die sich in ihr Land ergießen könnte und die Demografie der Region verändern könnte: »Eine derartige Lösung werden wir nicht akzeptieren. Das ist eine rote Linie und würde einer Kriegserklärung gleichkommen«, sagte Jordaniens Außenminister Ayman Al-Safadi. Jordanien sieht in der aktuellen Lage Anzeichen für eine mögliche Vertreibung und Flucht der Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland nach Ägypten und Jordanien – wie schon nach den Kriegen von 1948 und 1967. Das kleine Jordanien könnte eine Masseneinwanderung kaum händeln, außerdem würde sich die demografische Zusammensetzung des Landes deutlich zugunsten der Palästinenser verschieben mit dem Risiko gewalttätiger Auseinandersetzungen: ein Albtraum für das Königshaus.

Ähnlich stellt sich die Lage für Ägypten dar: »Es ist wichtig, dass das palästinensische Volk unerschütterlich und präsent auf seinem Land bleibe«, sagte Präsident Al-Sisi. Gleichzeitig will er verhindern, dass militante Hamas-Kämpfer mit den palästinensischen Flüchtlingen aus Gaza ins Land strömen. Von denen hat er schon selbst genug, vor allem auf der Sinai-Halbinsel, die als Schlupfwinkel für gewaltbereite salafistische Gruppen gilt. Die Hamas steht den Muslimbrüdern nahe, einer in Ägypten gegründeten islamistischen Vereinigung, und die sind der Hauptfeind der ägyptischen Militärregierung.

Spontane Proteste aus Solidarität mit den Palästinensern brachen in der vergangenen Woche auf Universitätsgeländen, in Berufsverbänden, in Moscheen und auf einigen öffentlichen Plätzen aus. Ein solches Ausmaß an Mobilisierung ist nach dem Militärputsch beispiellos. Palästina könnte ein Auslöser sein für regierungskritische Demonstrationen, wenn die Waffen nicht schnell verstummen. Das weiß Al-Sisi genau.

Aus Kairo kommen daher bereits seit Tagen scharfe Töne: Die israelische Reaktion gehe über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus und komme einer »kollektiven Bestrafung« gleich, erklärte Al-Sisi. Die Massaker der Hamas vom 7. Oktober scheinen in der Debatte dagegen keine Rolle mehr zu spielen. Ägypten bemüht sich aber vor allem um Deeskalation in dem Konflikt, wohl auch aus Eigeninteresse.

»Ägypten möchte natürlich auch nicht in den Konflikt dahingehend hineingezogen werden und verhindern, dass man plötzlich Millionen oder Hunderttausende Flüchtlinge auf ägyptischem Staatsgebiet hat«, sagt Nahost-Experte Daniel Gerlach. »Deshalb handelt man strategisch und relativ emotionslos, was den Umgang mit dem Krieg in Gaza anbelangt.« Auch die Beziehungen zu den USA wolle man nicht aufs Spiel setzen.

In Jordanien ist die Jugend mobilisiert. Ali, 26, und junge Demonstranten wie er sagen, sie seien bereit, für die Verteidigung der Palästinenser gegen die israelische Besatzung zu sterben, berichtet die Nachrichtenwebseite »Middle East Eye«. Sie wünschen sich von der jordanischen Regierung, dass sie die Grenzen zu Palästina öffnet und »ihnen erlaubt, dort zu kämpfen«. Die Demonstranten forderten die Ausweisung des israelischen Botschafters aus Jordanien und die Aufhebung des Friedensvertrags mit Israel. »Wir wollen, dass die jordanische Regierung uns erlaubt, diese Botschaft zu entfernen und die Beziehungen zu den Besatzern abzubrechen«, sagte Ali gegenüber »Middle East Eye«. »Wir dürfen nicht tatenlos zusehen.« Dabei ist Ali Buchhalter in einer Molkereifirma, ohne Verbindung zu einer politischen Bewegung. Seit dem Beginn des Krieges gegen den Gazastreifen protestieren er und seine Kollegen täglich.

Nördlich von Israel im Libanon rief die eng mit dem Iran verbündete Schiitenorganisation Hisbollah zu einem »Tag des beispiellosen Zorns« auf, dem Tausende Anhänger folgten. Schon seit Tagen demonstriert die Miliz mit gezielten Raketenangriffen ihre Kampfbereitschaft. In vielen Ländern der arabischen Welt richteten sich die Proteste auch gegen Vertretungen der USA, die im Krieg an Israels Seite stehen. Die Reaktionen der Staaten, die im Rahmen der Abraham-Abkommen ihre Beziehungen mit Israel normalisiert hatten und sich bisher zurückhaltend äußerten, lesen sich immer schärfer. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa gaben alleine Israel die Schuld an der Explosion bei dem Krankenhaus. Der Golfstaat Bahrain äußerte sich ähnlich. Die Regionalmacht Saudi-Arabien will ihre Gespräche über eine mögliche Normalisierung schon zuvor auf Eis gelegt haben.

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