Filmanalyse als Buch: Marxismus im Maßanzug

Wolfgang M. Schmitt bündelt seine ideologiekritischen Online-Film-Analysen in einem Buch

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.
Selbst die Video-Analysen in Corona-Zeiten machte er nicht im Jogger auf der Couch, sondern im Zweireiher: Wolfgang M. Schmitt
Selbst die Video-Analysen in Corona-Zeiten machte er nicht im Jogger auf der Couch, sondern im Zweireiher: Wolfgang M. Schmitt

Am Anfang könnte sich eine gewisse Text/Ton-Bild-Schere einstellen. Wer zum ersten Mal diesen zugleich jungen und doch nicht so jung wirkenden Mann im Maßanzug auf einem Salonsessel vor seiner Bücherwand sitzen sieht, wird womöglich erwarten, dass dessen Youtube-Videos unter dem Titel »Die Filmanalyse« allein ein ehrwürdiges Schwarz-Weiß- oder Arthousekino hochhalten, während die Zumutungen heutiger Unterhaltungsindustrie diskret ausgeblendet werden.

Man ist dann womöglich überrascht, wenn Wolfgang M. Schmitt stattdessen aktuelle Blockbuster oder vermeintlich wohlmeinende Oscar-Anwärter nicht etwa einem schnöde kulturkritischen Lamento unterzieht, sondern einer marxistisch geprägten Ideologiekritik. Dabei hätte man schon bei genauerem ersten Hinsehen bemerken können, dass die Regale im Hintergrund nicht nur vom bildungsbürgerlichen Kindler-Literaturlexikon dominiert werden, sondern auch von den vielen blauen Bänden der Marx-Engels-Werke.

Freilich dürfte Schmitt vielen inzwischen nicht nur als Filmkritiker bekannt sein, sondern auch über seine diversen anderen Projekte wie den Politik-Podcast »Die Neuen Zwanziger« mit Stefan Schulz oder den Wirtschafts-Podcast »Wohlstand für alle« mit Ole Nymoen, mit dem zusammen er auch das Buch »Influencer« veröffentlicht hat. Auch für das »nd« hat er schon geschrieben. Doch begonnen hat alles vor zwölf Jahren mit Schmitts Youtube-Kanal zur Filmanalyse, der heute mehr als 100 000 Abonnenten hat und aus dem eine Auswahl von Rezensionen jetzt als Buch erschienen ist, das es vom Umfang her locker mit einem der dicken Bände in seiner Bücherwand aufnehmen kann.

Thematisch sortiert von Schmitts Lieblings-Ärgernis, dem deutschen Film, über Animationen, Interventionen und Superhelden-Variationen bis hin zu dann natürlich doch auch alten (und neuen) Meistern wurden hier 120 seiner bislang etwa 650 druckreif frei vorgetragenen Kritiken transkribiert, die Schmitts typische Gegenüberstellung von Filmen und die seine Analyse leitenden literarischen oder theoretischen Texte nun auch selbst in Buchform verfügbar machen. Die editorische Gruppierung lässt Zusammenhänge entstehen, die sich im wöchentlich-aktuellen Erscheinungsrhythmus sonst nicht herstellen.

So etwa bei einem von Schmitts liebsten Feinden: Til Schweiger. Nun steht die Klassiker- wie Klassen-Analyse von dessen erstem – und für Schmitt womöglich einzig sehenswertem – Auftritt in »Manta Manta« (1991) ganz nah bei den homophoben Po- und Pimmelwitzen von »Klassentreffen 1.0« (2018), der stellvertretend für Schweigers weniger wohlwollend betrachtete eigene Regiearbeiten ausgewählt wurde.

Oder man kann die Besprechungen von allen drei Teilen der Pennälerkomödie »Fack ju Göthe« (2013–17) von Bora Dağtekin am Stück lesen. Dem ersten bescheinigt Schmitt immerhin Humor, bevor er mit Bezug auf den Altphilologen Manfred Fuhrmann hinter der vermeintlich gesellschaftskritischen Coolness die Spießigkeit und soziale Kälte freilegt. Die setzt sich auch im vollends enttäuschenden zweiten Teil fort, bis schließlich der dritte, »Final Fack«, dann noch eine ganz besondere theoriegeschichtliche Einordnung erfährt. Es handle sich nämlich in Wahrheit um eine Verfilmung von Michel Foucaults Klassiker »Überwachen und Strafen«, wie Schmitt mit nur halb gespielter Ironie verkündet. Denn in einer Szene sei dieses Werk auch tatsächlich zu sehen, doch was Foucault kritisiere, werde von den Filmemachern verherrlicht, die jede systemkritische Energie, die sie den Schülern erlauben, umgehend in die neoliberale Perfektion von Foucaults Beschreibung der Disziplinargesellschaft zurückbiegen.

Schmitt kommt jedoch zu noch überraschenderen Urteilen, so wenn er einem angeblich kritischen Arthouse- oder Oscar-Erfolg wie »12 Years a Slave« (2013) mit dem Kolonialismustheoretiker Frantz Fanon ein verqueres Blackfacing, Betroffenheitskitsch und Gewaltpornografie vorwirft. Oder wenn er beim flächendeckend verehrten Kultfilm »Forrest Gump« (1994) mit Blick auf die Soziolog*innen Edgar Cabanas und Eva Illouz die Ideologie des »Glücksdiktats« geißelt und dem gänzlich unpolitischen (Post-)Vietnam-Mitläufertum des Protagonisten das im Nationalsozialismus gipfelnde Prinzip der »totalen personifizierten Anpassung« aus Woody Allens »Zelig« (1983) gegenüberstellt.

Große Bestürzung löste Schmitt bei vielen Fans aus, als er das vermeintliche Kindheitsidyll »Der König der Löwen« (ebenfalls 1994) zum »schlimmsten« aller Disney-Filme erklärte. Mit Verweis auf Joseph Campbells in Hollywood viel gelesenes Buch »Der Heros in tausend Gestalten« zeigt er, dass die überdämonisierte Feindfigur des bösen Onkels Scar darüber hinwegtäusche, dass der Film selbst nur die Fortschreibung seiner eigenen faschistoiden feudalen Ordnung propagiere, statt sich die immerhin aufscheinende, viel freiere Gegenwelt der lustigen Gesellen Timon und Pumbaa zum Leitbild zu nehmen.

Und doch ist es nicht das einzige Prinzip von Schmitts Analysen, aus schlechten Filmen besonders viel über herrschende Ideologien zu vermitteln, sondern auch in guten Filmen die Möglichkeit anderer – vielleicht sogar besserer – Welten zu sehen. Am offensichtlichsten gelingt das im Science-Fiction-Film; vor allem an den Genre-Beiträgen von Denis Villeneuve und Christopher Nolan macht Schmitt das deutlich.

So zeige etwa Villeneuves »Blade Runner 2049« (2019, den Schmitt für besser hält als den Vorgänger von 1984) in der postapokalyptischen Annäherung an seine Hauptfigur eines melancholischen Maschinenmenschen, dass das Kino stets auch die Sehnsucht nach dem eigentlich Menschlichen in der Überschreitung des Menschlichen ausdrücke. In Nolans »Interstellar« (2014) bereits musste für die Zukunft des Menschen eine neue Heimat gesucht werden, auch wenn dabei der Wert der Tradition nicht verloren gehen dürfe, denn »das wirklich Neue ist nur möglich, wenn auch etwas Altes bleibt«, so Schmitt.

Eine solche Dialektik bestimmt auch Schmitts Lieblingsfilm, Alfred Hitchcocks »Vertigo« (1958), der mit seiner Verknüpfung von wahnerzeugender Leidenschaft und Krimi-Plot zum Lehrstück und Inbegriff des Filmeschauens selbst wird. Im stets prekären Verhältnis aus verführerischer sinnlicher Erfahrung und intellektueller Erkenntnis. Oder um es in einer verdoppelten der unzähligen Variationen eines Satzes von Andrei Tarkowski zu formulieren (dessen »Stalker« von 1979 der letzte Text des Buchs gewidmet ist), mit denen Schmitt jede seiner Analysen beendet: »Wenn wir nur schauen, dann sehen wir nicht. Aber wenn wir nur sehen, dann schauen wir nicht.«

Die gedruckte Version der »Filmanalyse« ist eine hervorragende Gelegenheit, sich Schmitts Ausnahmeprojekt innerhalb der deutschsprachigen Filmkritik wie auch des Youtube-Kosmos einmal im Gesamtbild zu vergegenwärtigen. Als Bonus bietet das Buch neben zahlreichen Fotografien des Autors ein sehr ausführliches Interview, das der Verleger Marco Siedelmann mit Schmitt geführt hat. Eine besondere Ehre ist sicher das Vorwort, das die deutsche Regie-Legende Dominik Graf beigesteuert hat, der als einer der wenigen Lichtblicke des deutschen Films mit seinem »Fabian« (2021) vertreten ist.

Auch Graf teilt eine der häufigsten Reaktionen, die Schmitt von seinem Publikum bekommt: dass man keineswegs immer seiner Meinung sein muss, um von seinen Deutungen zum Denken angeregt zu werden. So bekennt er – mit teils sogar noch schärferer Ablehnung als Schmitt –, dass er sich gegenwärtig lieber dessen Analysen anhöre, als selbst ins Kino zu gehen. Denn auch Graf ist einer, der nicht nur schauen will, sondern auch sehen.

Wolfgang M. Schmitt: »Die Filmanalyse. Kino anders gedacht«. Seidelman & Company, 724 S., geb., 34,90 €.

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