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Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft

Kriege und Terrorismus sind der Nährboden des Nihilismus. Wenn wir am Guten festhalten wollen, sollten wir auf Zweifel und Hoffnung vertrauen

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 5 Min.

Zum Pessimisten zu werden, fällt heute wahrlich nicht schwer. Angesichts neuer Kriege und Krisen, von wachsender Gewalt allerorten entdecken viele den Schopenhauer in sich. Wohin man schaut, scheint im Menschen eine unstillbare destruktive Kraft zu wirken, die keine anderen Prinzipien als Egoismus und Zerstörung zulässt und »Elend, Jammer, Qual und Tod« bewirkt, wie es Arthur Schopenhauer in »Die Welt als Wille und Vorstellung« schrieb. Rechnet man noch die Klimakatastrophe hinzu, scheint vielen der allgemeine Untergang wahrscheinlicher als ein Neuanfang.

Den heutigen Nihilisten bleibt daher aktuell nur eines, nämlich der neobiedermeierliche Rückzug ins Private, ganz der Devise folgend, dass all den Spinnern da draußen ohnehin nicht mehr zu helfen sei. Und doch treibt die Aktivisten, die auf den Straßen demonstrieren, die Hoffnung und nicht die Verzweiflung an. Die Hoffnung definierte Ernst Bloch, der Pionier unter den modernen Utopietheoretikern, in seinem Werk »Das Prinzip Hoffnung« als Affekt, der »die Menschen weit (macht), statt sie zu verengen«. Sie öffnet die Herzen für eine bessere Zukunft.

Was in diesen Tagen geradezu naiv klingen mag, war zumindest im Ansatz nie blauäugig angelegt. Denn, so der Philosoph weiter, »Hoffnung ist umlagert von Gefahren«. Oder, um es noch klarer zu formulieren: Die Erwartung des Guten entspringt überhaupt erst der Präsenz des Bösen. Zu hoffen, bedeutet daher seit jeher, im tiefsten Inneren Dialektiker*in zu sein.

Gustav Landauer hat sich als einer der wichtigen Vordenker von progressivem Widerstand diese Denkmethode schon früh zu eigen gemacht und in seiner berühmten Schrift »Die Revolution« (1907) thematisiert. Geschichte vollendet sich in dessen Sinne nur in einem permanenten Wechsel zwischen Topie und U-Topie, also zwischen dem Ort und dem Nicht-Ort. Aus dem Wissen um den Status quo, wie er eben ist, und der Idee, wie er besser sein könnte, resultiert eine Dynamik der dauerhaften Überwindung einer letzthin nicht immer weiter optimierbaren Gegenwart. Bloch dachte ganz ähnlich und machte daher den Mangel als den Beginn allen Veränderungsbestrebens aus. Ohne Defizite keine Erneuerung.

Obschon man sich in unserer düsteren Gegenwart verständlicherweise nicht unmittelbar von einer Hoffnungsphilosophie euphorisieren lassen mag, so vermittelt sie uns doch eine wichtige Eigenschaft. Im Gegensatz zur reinen Schwarzmalerei animiert sie uns zu einer Beweglichkeit im Denken. Sie transzendiert die Wirklichkeit, durch die Sehnsucht, aber genauso entscheidend durch den Zweifel.

Anders als der Optimismus und der Pessimismus, die beiderseits die Absolutheit für sich reklamieren und alles Abweichende aus ihrem Programm streichen, weiß die Skepsis um die Vieldeutigkeit des Daseins. Sie wägt ab, setzt sich Widersprüchen aus, ohne einer wohlfeilen Komplexitätsreduktion auf den Leim zu gehen. Lähmt uns etwa die Angst, hält uns der Zweifel lebendig. Eben weil er sich mit keinem noch so finsteren Ausgang abfindet. Wie sich offenbar erst auf den zweiten Blick erschließt, hat er so manches gemein mit der Hoffnung.

Beide Haltungen zielen auf die Unabschließbarkeit – ein ungemein wichtiges Moment, gerade in einer Zeit, in der vieles so alternativlos und völlig verfahren erscheint. Ein gesundes Grübeln, verbunden mit einer Einstellung, die auf ein heilvolles Morgen vertraut, verspricht zunächst Stärke und Resilienz. Denn die Kombination setzt voraus, das Grauen der Gegenwart anfangs auszuhalten, um es sodann in irgendeiner Weise zu überwinden.

Aber die Möglichkeiten gehen noch darüber hinaus und bilden die Opposition zum Anspruch jener Terroristen, wie sie etwa die Hamas-Kämpfer repräsentieren. Beschrieben hat die Potenziale der Soziologe Heinz Bude in einem kurzen Essay in dem 2017 erschienenen Band »95 Anschläge. Thesen für die Zukunft«. Fast schon vorausschauend beschäftigt er sich darin mit dem just zugespitzten Konflikt zwischen den israelischen Juden und den arabischen Palästinensern. Ihm zufolge wollen die Kriegstreiber zum einen kurzfristig eine lähmende Furcht, zum anderen eine »schulterzuckende Indifferenz«, man könnte auch sagen Abstumpfung, hervorrufen. Beide strategischen Ziele laufen auf ein Verharren in der bloßen Gegenwart, eine gefährliche Entwicklungslosigkeit hinaus.

Umso mehr plädiert Bude für ein Festhalten an der Hoffnung. Über sie verfügen wir in »dem Bewusstsein, dass das Nichts des Terrors gegen unser Leben nicht das Nichts unserer Lebensweise bedeutet. Hoffnung haben wir, wenn wir daran glauben, dass die Art und Weise, wie wir leben, die Art und Weise darstellt, wie wir leben wollen. Der Terror, der uns die Zukunft nehmen will, trifft auf unseren Willen, an eine Zukunft ohne Furcht und Schrecken zu glauben.«

So gesehen geht es bei den terroristischen Angriffen auf den israelischen Staat wie auch bei Putins Feldzug nicht vornehmlich um Landgewinn, sondern darum, die Vergangenheit zu restituieren und uns in einer schier endlosen Gegenwart gefangen zu halten. Es ist auch die deprimierende Realität in den palästinensischen Flüchtlingslagern, deren Bewohnern es seit Jahrzehnten aus politisch-symbolischen Gründen verwehrt wird, sich in die arabischen Gesellschaften zu integrieren. Denn für Autokraten, Nationalisten und Ideologen sollen der Stillstand und der bloße Zwang zur Uniformität herrschen. Im Kontrast dazu offenbaren sich die Hoffnung und der produktive Zweifel als demokratische Tugenden. Sie wirken dort am besten, wo sie Bewegungen initiieren und Menschen zusammenbringen, sei es zum Protest und zivilen Ungehorsam oder sei es zur Realisierung einer offenen und friedlichen Gesellschaft.

Etwas poetischer hat die Lyrikerin Silke Scheuermann diese gemeinschaftlichen Verwirklichungen des Bloch’schen »Vorwärts« auf den Punkt gebracht. So trifft man in ihrem Gedicht »Skizzen im Gras« (2014) auf folgende Verse: »Es ist die Zeit nach den vertikalen Gärten. Hoffnung erstreckt sich ins Horizontale«. Statt den Fortgang der Geschichte theokratisch von irgendwelchen höheren, fernen Ideen abzuleiten, ist die Zukunft, so die Botschaft, unter uns zu finden. Sie bewährt sich im Humanen und – damit verbunden – Humanitären. Wir gestalten sie im Miteinander, im Eintreten füreinander.

Nichts anderes charakterisiert diesen Prozess so wie der Begriff der Verantwortung. Auch sie fokussiert die Zukunft, tritt insbesondere dann in Kraft, wenn Entscheidungen über das Wohl eines Mitmenschen gefällt werden müssen, mit Umsicht und Vorausschau.

Die Hoffnung aufgeben? Dies sollte keine Option sein, obschon es zugegebenermaßen augenblicklich schwerfällt, auf sie zu setzen. Aber alles andere käme einer Kapitulation gegenüber dem gleich, was wir in der Vergangenheit schon für die Zukunft errichtet haben.

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