Die Mittelstandsfamilie aus dem dritten Stock

Bettina Jahnkes »Antigone«-Inszenierung am Potsdamer Hans-Otto-Theater ist ein wenig zu klar geraten

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 5 Min.
An Primärfarben mangelte es jedenfalls nicht.
An Primärfarben mangelte es jedenfalls nicht.

Am Ende steht der Tyrann allein im Dunkeln. Die Familie hat sich vor ihm umgebracht. Ihm fehlt das Volk zum Befehlen. Er herrscht in der Leere. Das Schicksal von Kreon, immer mal wieder König von Theben, steht im Mittelpunkt der Antigone-Inszenierung am Potsdamer Hans-Otto-Theater, die am vergangenen Freitag Premiere feierte. Die Intendantin Bettina Jahnke führte Regie; John von Düffel, Professor für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin und demnächst selber Intendant in Bamberg, hat unter Zuhilfenahme der Stücke »Sieben gegen Theben« und »Die Phönizierinnen« bereits 2014 diese Antigone-Fassung geschrieben: Behutsam modernisiert könnte man den Text nennen – nach von heute klingt es nicht, verständniserschwerende Sperrigkeit im Geiste Hölderlins wird aber auch vermieden. Praktisch ist, dass so auch die Vorgeschichte des eigentlichen Antigone-Stoffs erzählt wird.

Des Griechenlands Tragödien erfreuen sich einer unendlichen Halbwertszeit. Wir lernen von antiken Stoffen ohne Unterlass, so die motivierende Lehrmeinung. Gleichfalls stellt sich angesichts der Tradition ihrer Interpretation auf der Bühne, in der Philosophie, der Kunst natürlich auch die Frage nach der Originalität im Gebrauch.

Den Anfang macht ein Umweg. Wir betreten das Theater nicht über die profanen Glastüren, sondern werden zweimal ums Eck geschickt, wo ein roter Teppich ausgerollt ist. Er führt durch einen Gasometer, wo allerlei Technik herumsteht, wir passieren die Bühne (von Claudia Rohner), wo wir an auf Stufen gereihten roten Stühlen vorbeigehen, müssen über eine Rampe entlang und finden dann Platz. Das Bühnengeschehen, so die Suggestion, hat also mit unserer Lebenswelt da draußen zu tun, unsere Räume sind ihre Räume. Denn denselben Weg beschreitet dann später auch die bekannteste griechische Familiensippe: Iokaste, (Stief-)Mutter und Witwe des Klumpfuß Ödipus, im Schlepptau die Söhne Polyneikes und Eteokles, Tochter Ismene, Tochter Antigone und der (noch halbwegs) liebe Bruder Kreon.

Sie tragen knallgelbe Blazer, graue Hoodies, Lederjäckchen, karierte Hosen. In den Kostümen von Anne Hölzinger wirkt das Geschlecht ein wenig wie die Mittelstandsfamilie aus dem dritten Stock, die mit Alter, Ansehen und dem Ideal von »sportlich-elegant« ein bisschen Probleme hat. Alle Darsteller sprechen im Chor mit. Mit Ausnahme von Kreon-Darsteller Jörg Dathe müssen alle zwei Rollen im Verlauf des Abends spielen.

Eteokles (Arne Lenk) ist mächtig sauer. Bruderherz Polyneikes (Paul Wilms) ist wegen Erbstreitereien respektive Herrschaftsansprüchen abgezischt und steht nun mit fremden Armeen vor den Toren der Stadt Theben. Lenk spielt einen cholerischen Macker, ein Sohn in Angst um Stand und Ehre, der in seinem weißen Sakko wie ein lauter Möchtegern daherkommt. Wilms' Polyneikes ist der aufbrausende Rebell im grünen Kapuzenpulli und schwarzer Lederjacke. Die beiden schubsen sich und rangeln, Mama Iokaste (Kristin Muthwill) ist verzweifelt ob dieser Raufereien, die alle nur ins Unglück stürzen wird. Auch sie haut ein bisschen drauf, man zieht an ihr. Der Fluch des Inzests lastet schwer. Archaische Perkussionsmusik steuert derweil am Bühnenrand Tobias Dutschke bei, was uns in Erinnerung ruft, dass wir keiner Familienkabbelei in etwas hohem Ton von nebenan beiwohnen, sondern einem uralten Konflikt.

Alle Vermittlungsversuche helfen nichts. Eine schwere schwarze Metallwand fährt herunter, um die Belagerung der Stadt zu bedeuten. Kreon opfert seinen Sohnemann Menoikeus (Mascha Schneider), der in seinem grauen Verweigerer-Hoodie keine Mitsprache und keinen Text hat, damit Götterdaddy Zeus ein paar Blitze schleudert und Theben gesetzestreu rettet.

Die Streithähne sind tot. Und Kreon verändert sich vom bedächtigen Berater zum Despoten. Er hat einen Sohn geopfert, ist jetzt König. Mascha Schneider, gerade noch jenes Sohnesopfer, spielt jetzt die Antigone, und der Konflikt zwischen dem Kind mit Prinzipien und dem ignoranten Pragmatiker, Vater ihres Schwagers in spe Haimon (Wilms), kommt in Gang. Antigone will den Bruder Polyneikes begraben, Kreon den Verräter vor den Toren der Stadt verrotten lassen. Antigone setzt den Plan in die Tat um: Sie steht für das Gesetz der Götter, den Ritus. Kreon bastelt sich sein eigenes Gesetz, seine Herrschaft verselbständigt sich, seine Beziehungen werden ihm egal: absolut, schrankenlos, all-ein. Er tänzelt allein auf der Bühne, spricht selbstgefällig, wirkt schmierig, lässt Konfetti regnen mit Kanonenknall.

In der einzigen dezidiert lustigen Szene des Abends erfährt Wüterich Kreon von einem Wächter (formidabel: Alina Wolff), dass Antigone Polyneikes mit Staub bedeckt hat. Verhör und Rumgedruckse als Kommunikationsformen der Macht werden hier angenehm absurd auf den Punkt gebracht. Aber Kreon will eigentlich nichts mehr hören.

Auf den Rat des Sehers Teiresias, der von Lenk und Muthwill gesprochen wird, so ein zweigeschlechtliches Wesen wird, das etwas außerhalb patriachaler Ordnung steht, hört er nicht mehr. Auf seinen Sohn Haimon (Wilms), der flehend und klagend durchs Publikum rennt, hört er auch nicht mehr. Generell wird viel kontrolliert geschrien. Antigone, aufmüpfige Tochter muss büßen für ihren Ungehorsam und soll mit ihrem toten Bruder in die Höhle. Die roten Stühle des Bühnenbilds sind inzwischen verschwunden, nur noch zwei hängen von der Decke, und mit ihnen ein möglicher Raum für Gemeinschaft, Bewusstsein um Publikum, die Vorahnung eines Parlaments.

Das Entscheiden ist, zumindest laut Chefdramaturgin Bettina Jantzen, das Thema des Abends. Empathie verschwindet, Kompromisse könnten nur noch Schwäche sein, Mitsprache wird verhindert. Kreon als Zentrum der Inszenierung macht das überdeutlich. Trotzdem ist die Inszenierung selbst vor diesem Hintergrund etwas zu klar geraten. Die Kostüme vermitteln Gegenwärtigkeit, die Bühne lässt Kreon einsam werden, den Spielern wird kein Abstand zu ihren Rollen abverlangt. Alles fügt sich, ohne allzu dringlich zu werden. Der unkaputtbaren politischen Interpretationsvorlage hätten an diesem Abend stärkere Entscheidungen mit Mut zu antikem Wahn oder Gegenwartsabsurdität gutgetan; so wirkt alles etwas komprimiert und runtergespielt. Für Leute aber, die es gerne offen haben und runde Theaterbesuche mögen, ist die Potsdamer Antigone zu empfehlen.

Nächste Vorstellungen im Hans-Otto-Theater Potsdam: 5. 11., 24. 11., 2. 12 (www.hansottotheater.de). Am 11. 11. ist das Stück zu Gast im Kleist Forum in Frankfurt (Oder) (www.kleistforum.de).

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