Ausstellung von Adina Pintilie: Verfremdungseffekte der Liebe

Die Regisseurin und Künstlerin Adina Pintilie macht Körper und Lüste sichtbar, die von der Norm der Mehrheitsgesellschaft abweichen

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.
Adina Pintilie, You Are Another Me. A Cathedral of the Body, 2022, mehrkanalige Videoinstallation, Still, Performer: Hermann Müller, Dirk Lange
Adina Pintilie, You Are Another Me. A Cathedral of the Body, 2022, mehrkanalige Videoinstallation, Still, Performer: Hermann Müller, Dirk Lange

Manche glauben immer noch, die Aufklärung hätte gesiegt. Zumindest in sexueller Hinsicht. Wenn irgendeine Errungenschaft der westeuropäischen Studentenbewegung alle Gesellschaftsschichten erreicht hat, dann die sexuelle Befreiung. Kommune 1, Minirock und Oswalt-Kolle-Filme lüfteten die Bettdecken vom bürgerlichen Moralmuff. Ein halbes Jahrhundert später haben es Dating- und Pornoplattformen geschafft, die Liberalität der 68er in eine hypersexualisierte Internet-Abhängigkeit zu verwandeln. Geile Geschäfte macht damit vor allem der digitale Kapitalismus.

Linke und queere Filmschaffende versuchen deshalb immer wieder, die Ikonografie des Erotischen aus dem Zwang voyeuristisch-pornografischer und damit kommerzieller Interessen zu befreien. Zu den bekanntesten Vertreterinnen dieser Medienavantgarde gehört Adina Pintilie. Für ihren Berlinale-Beitrag »Touch Me Not« erhielt die rumänische Regisseurin und Videokünstlerin 2018 den Goldenen Bären. Der halbdokumentarische Film erkundet die Sexualität von Personen, deren Erotik für Mainstream-Medien nicht existiert. Menschen mit Behinderung, Angehörige der LGBTIQ-Community oder psychisch Traumatisierte.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Diese Vermessung zeitgenössischer Schamgrenzen setzt Pintilie nun in Stuttgart fort. »You Are Another Me« heißt die herausfordernde Schau im Württembergischen Kunstverein Stuttgart (WKV). Im Zentrum steht die gleichnamige Mehrkanal-Videoinstallation, deren frühere Fassung 2022 im rumänischen Pavillon der Biennale von Venedig zu sehen war. Für den Auftritt am Neckar hat die 43-jährige Künstlerin das Projekt nun überarbeitet und um ein weiteres multimediales Raumkunstwerk ergänzt.

Kinofans sehen in Stuttgart auch einige Mitwirkende aus dem preisgekrönten Berlinale-Film wieder. Christian zum Beispiel. Eine spinale Muskelatrophie schränkt den studierten Informatiker motorisch stark ein, dennoch führt er ein aktives Liebesleben mit seiner Freundin Grit. Die Szene, in der die kräftige Frau den kleinen, in seinen Elektrorollstuhl gesunkenen Mann umarmt, gehört zu den berührendsten Momenten der Installation. Pintilie zeigt viel nackte Haut, Nähe und Zungenküsse, doch ohne jede Aufdringlichkeit. Wenn die Kamera Menschen bei erotischer Gruppenerfahrung beobachtet, haben die Einstellungen nichts vom Gangbang-Primitivismus der Pornoportale. Und ebenso wenig von wohlmeinendem Therapie-TV. Eher entführt die Regisseurin in visionäre Liebesparadiese der Kunstgeschichte wie Hieronymus Boschs »Garten der Lüste«. Ob die Projektionswände im WKV wohl deswegen nach dem Vorbild von Altartriptychen angeordnet sind? »Kathedrale des Körpers« lautet jedenfalls der Untertitel der Präsentation.

Dem Geschlechtsakt nähert sich das Ganze über Gespräche an, über das Davor und Danach. Das erzeugt eine Erwartungshaltung, die trotz des experimentellen Ansatzes erstaunlich viel mit der Tradition des klassischen Kinos zu tun hat. Eine Transfrau redet stolz über ihre operierten Brüste, denen sie die Namen Gusti und Lilo gegeben hat. Christian zählt auf, welche Teile seines Körpers er am meisten schätzt. Er nennt unter anderem seine langen Haare. »Ein Statement für die Freiheit, die ich spüren will«, sagt er. Und obschon ihm beim Sprechen manchmal der Speichel aus dem Mund läuft, glaubt man ihm, dass er seinen »anders begabten Körper« mag. Dagegen gesteht der sportliche junge Kerl, dem auf Instagram alle Herzchen zufliegen würden, wie unglücklich er in Wahrheit mit seiner physischen Erscheinung ist.

Das verweist auf die vielleicht zentrale Erkenntnis von Pintilies filmischen Forschungen. Sie entlarvt die Brüchigkeit festgeschriebener Attraktivitätsmuster. Das rüttelt auch an den Konventionen, wie körperliche Liebe abzulaufen hat und wie man sie bildlich darstellen soll. Während die offizielle Repräsentation von Sex auf schlank, jung und hetero geeicht ist, macht Pintilie Körper und Lüste sichtbar, die von der Norm der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Anders als die Gurus der sexuellen Revolution glaubt die Regisseurin nicht, dass sich politische Machtverhältnisse auf der Matratze beseitigen lassen – aber sie feiert Erotik als Chance, individuelle Autonomie zu leben.

Ungewöhnlich sind die vielen kurzen Sequenzen zudem, weil sie nicht krampfhaft versuchen, ein Idealbild von Authentizität zu erreichen und gegen künstlerische Inszenierung auszuspielen. Wie schnell das Intime dabei ins Banale umkippt, erlebte man schon in Andy Warhols Alltagsporno »Blue Movie« von 1969. Pintilie bekennt sich zur Strategie der Ästhetisierung. Sie versetzt die Mitwirkenden in ein neutrales Raum-Zeit-Kontinuum, in dem fast alles weiß ist: Wände und Kleidung, Betten und Vorhänge. Keine Frage, ein Zärtlichkeitshimmel. Aber mit begrenzter Aufenthaltsdauer. Kritisch reflektierend schaltet sich die Regisseurin per Teleprompter selbst in das Geschehen ein, damit niemand in diesen Träumen versinkt.

Die Nachbar-Installation »Waffenstillstand«, das zweite Werk der Schau, bringt die Illusion des Unverfälschten vollends zum Platzen. Schemenhaft begleiten die Betrachtenden hier ein schwules Paar auf einen sommerlichen Ausflug. Doch hinter den Projektionswänden des weichzeichnerischen Idylls befindet sich ein Filmstudio, das Pintilie im WKV aufgebaut hat. In der Mitte steht, umringt von kalter Kameratechnik, ein ungemachtes Bett. Sind vielleicht alle Bilder von erotischem Glück am Ende nur Heilsversprechen der Medienindustrie? Die Frage nach der erfüllenden Sexualität wird an Besucherinnen und Besucher zurückgegeben. Darin liegt der Verfremdungseffekt des empathischen, aufwühlenden und mutigen Liebes-Spiels, das Adina Pintilie und ihr Ensemble in Stuttgart aufführen.

»Adina Pintilie. You Are Another Me. Eine Kathedrale des Körpers«, bis 14. Januar 2024, Württembergischer Kunstverein Stuttgart.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.