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Sea-Eye-Ärztin: »Das war eine regelrechte Hetzjagd«
Auf dem Mittelmeer starben vier Menschen, weil die libysche Küstenwache ein Schlauchboot attackierte. Barbara Held hat den Vorfall beobachtet
Am frühen Morgen des 27. Oktober hat die Besatzung des Seenotrettungsschiffes »Sea-Eye 4« vor der libyschen Küste in internationalen Gewässern von Alarmphone einen Notruf erhalten. Sie beobachteten und dokumentierten mit Ihrer Kamera, wie ein Boot der libyschen Küstenwache, das dort offiziell für die Seenotrettung zuständig ist, die Insassen eines kleinen Boots in Gefahr brachte. Was haben Sie genau gesehen?
Was ich sah, war eine regelrechte Hetzjagd. Immer wieder fuhr das Boot der libyschen Küstenwache bis kurz vor das Schlauchboot mit rund 50 Menschen an Bord, bog dann scharf ab und überließ die Menschen den hohen Wellen, die es damit verursachte. Diese Manöver brachten das kleinere Boot fast zum Kentern. Ich sah, wie zwei Menschen ins Wasser fielen oder sprangen. Ob sie es absichtlich getan haben, weiß ich nicht, denn immer wieder hatte ich zuvor Menschen gehört, die aus Libyen geflohen sind und gesagt haben: »I better drown than be brought back to Libya!« – Ich ertrinke lieber, als dass ich nach Libyen zurückgebracht werde. Weitere Menschen fielen oder sprangen ins Wasser. Manche wurden von der libyschen Küstenwache wieder ins Schlauchboot gezogen, andere trieben weiter ab.
Barbara Held, 56, ist Seefahrerin und freiberufliche Ärztin für Allgemeinmedizin und Notfallmedizin auf Kreuzfahrtschiffen. 2015 hörte sie von Idealisten, die mit dem Schiff »Sea-Watch« ins Mittelmeer aufbrechen wollten, um geflüchteten Menschen beizustehen, und entschied sich, »die Welt oder doch wenigstens einige Menschen zu retten«. Seit 2016 arbeitet sie als Freiwillige für verschiedene Seenotrettungsorganisationen und beteiligte sich inzwischen an rund 12 000 Rettungen. Darüber hinaus engagiert sie sich beim Hamburger Ärztemobil und arbeitet für Med Global in Bangladesch. Ende Oktober war sie auf der »Sea-Eye 4« als Bordärztin im Einsatz.
Was geschah dann? Ihre Besatzung evakuierte 49 Personen. Aber nicht alle schafften es.
Mehrere Mitglieder unseres Such- und Rettungsteams kletterten wenig später in das Boot und bargen zuerst die Bewusstlosen. Eine Frau lag mit dem Gesicht im Wasser. Ihre Hände griffen verzweifelt ins Leere. Ein Mann zog sie über Wasser. Die anderen Menschen im Boot atmeten nicht mehr. Unsere RHIB-Crew (das Schnellboot-Team, Anm. d. Red.) saß in der Benzin-Brühe im Boot und hielt sie in den Armen. Ich blickte in die Gesichter von vier Toten, darunter ein zwölf Jahre altes Mädchen. Den verzweifelten Mitstreiter*innen musste ich das Schreckliche sagen: »Wir können nichts mehr für sie tun.«
Woran starben die Menschen?
Wir nehmen an, dass sie in dem Wasser, das sich im Boot gesammelt hatte, ertrunken sind. Mehrere andere Menschen schwebten in Lebensgefahr.
War die Evakuierung dieses Mal anders als sonst?
Ja. Manches Mal erlebte ich schon, wie die Geflüchteten lachend und enthusiastisch an Bord kommen, uns umarmen, beten oder voller Freude singen, wenn sie gewahr werden, dass sie der Hölle in Libyen entkommen und in Sicherheit sind. Nicht so dieses Mal. Ich habe die Überlebenden auf dem Boot schreien und flehen gehört. Sie hielten Babys in die Luft, weil sie wollten, dass wir wenigstens diese retten, wenn schon die Mütter sterben oder den Libyern in die Hände fallen sollten. Als sie an Bord der »Sea-Eye 4« kamen, schrien und weinten sie weiter, konnten lange nicht begreifen, dass der Albtraum endlich vorüber war. Erst in den Tagen danach entspannten sie sich, konnten wieder lachen, erzählen, an eine Zukunft denken und die furchtbaren Erlebnisse hinter sich lassen. Aber es war stiller als sonst. Die ihren Freund, ihre Frau oder ihre Tochter verloren hatten, blieben stumm vor Schmerz oder schrien vor Entsetzen.
Wer waren die Menschen im Schlauchboot?
Die Menschen im Schlauchboot waren von Zuwara in Libyen aus aufgebrochen. Manche hatten offenbar schon vier erfolglose Fluchtversuche hinter sich. Sie kamen aus Nigeria, Ghana, der Elfenbeinküste, Äthiopien, Syrien, dem Sudan, Südsudan, Guinea, Guinea-Bissau und Kamerun. Die beiden Jüngsten der 49 geretteten Personen waren sieben und zehn Monate alt, sechs der neun Minderjährigen waren unbegleitet, eines davon ein Mädchen. Unter den 15 geretteten weiblichen Personen waren fünf schwanger.
Wie geht es denen, die durch das Manöver der libyschen Küstenwache in Lebensgefahr gerieten?
Sie brachten uns unmittelbar nach der Rettung eine Hochschwangere, einen jungen Mann und ein Baby ins Bordhospital, die kaum noch atmeten. Wir konnten sie aber relativ schnell stabilisieren. Das Baby, dessen Lunge anfänglich rasselte und das Benzinverätzungen am Unterleib hatte, war ein kleiner Kämpfer. Der Junge krabbelte schon am nächsten Tag quietschfidel übers Deck und nuckelte an der Brust seiner Mutter. Der junge Mann, den wir wegen Verbrennungen am ganzen Körper aufgrund des Benzin-Salzwassergemisches behandelten, litt unter starken Schmerzen. Er entwickelte eine fiebrige Lungenentzündung. Sein größter Schmerz aber war der Verlust seiner Frau. Er hatte sie noch zu reanimieren versucht, bevor er selbst bewusstlos wurde und fast ertrank.
Und die hochschwangere Frau?
Sie lächelte uns an, kurz nachdem wir sie abgesaugt und ihr Sauerstoff gegeben hatten. Ich habe selten eine so starke Frau gesehen. Sie war noch sehr schwach, schaffte es aber mit unserer Hilfe und der Unterstützung einer weiteren Nigerianerin bis zur Dusche, wo ich sie wusch. Die anderen Frauen kümmerten sich danach liebevoll um sie. Schon am nächsten Tag saß sie mit ihnen draußen zusammen und verbreitete einen unerschütterlichen Optimismus.
Die italienische Küstenwache soll sich geweigert haben, eine andere schwangere Frau in Lebensgefahr zu evakuieren. Was war geschehen?
Als wir dann eine weitere junge, bewusstlose Frau im Bordhospital behandelten und ihre benzindurchtränkte Kleidung öffneten, sah ich erst, dass sie etwa im sechsten Monat schwanger war. Das größte Problem war ihre sehr schlechte Sauerstoffsättigung, ihr viel zu niedriger Blutdruck und ihr verlangsamter Herzschlag. Unter High-Flow-Sauerstoffgabe konnten wir nur mäßige Werte erzielen, aber uns gelang es, ihren Kreislauf mit intravenöser Flüssigkeitsgabe zu stabilisieren. Wir behandelten sie antibiotisch, verabreichten ihr Schmerzmittel sowie ein Medikament, das die Bronchien erweitert, da ihre Lunge rasselte. Zwischendurch wachte sie kurz auf und konnte uns Auskunft geben, wie sie heißt, dass sie alleine reist und zum ersten Mal schwanger ist. Sie fragte nach ihrem Baby, das ich bis dahin noch nicht untersucht hatte. Dann flüsterte sie: »Sea-Eye«? Sie lächelte, als ich bejahte. Dann verlor sie wieder das Bewusstsein. Kurz darauf platzte ihre Fruchtblase. Das Fruchtwasser sah normal aus. Für das Baby war es noch viel zu früh, jetzt schon auf die Welt zu kommen, und die Mutter viel zu schwach, um die Wehen überstehen zu können.
War das ungeborene Kind da noch am Leben?
Im Ultraschall konnte ich keinen Herzschlag und keine Kindsbewegungen erkennen. Ich versuchte mir erst einzureden, vielleicht nicht genug Erfahrung zu haben und versuchte mit dem Hörrohr die Herztöne zu hören und über die EKG-Ableitungen einen Herzschlag neben dem der Mutter zu entdecken. Ich konnte es mir wohl selbst nicht eingestehen: Es muss kurz zuvor gestorben sein, sonst wäre das Fruchtwasser trüb gewesen. Wir forderten gleich eine medizinische Evakuierung an.
Hat Ihnen die italienische Seenotrettungsleitstelle MRCC medizinische Unterstützung zukommen lassen?
Im Gegenteil. Die MRCC verlangte stattdessen von uns, die Schwangere nach Libyen zu bringen. Die dortigen Behörden reagierten jedoch nicht auf unsere Anfrage. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt, wenn wir es noch bis in italienische Gewässer schaffen, dann würde uns das MRCC Rom einen Hubschrauber schicken. Dieser hätte die junge Frau in einer Stunde evakuieren können. Ein Verantwortlicher des italienischen telemedizinischen Dienstes hatte die Dringlichkeit noch bestätigt, aber selbst das wurde von der italienischen MRCC ignoriert. Stattdessen wurde uns erst nach Stunden eine Evakuierung vor Lampedusa in acht Stunden Entfernung in Aussicht gestellt. Erlauben Sie mir dazu einen Satz: Einer Europäerin wäre das nicht passiert.
Wie hat die Schwangere auf all das reagiert? War sie ansprechbar?
Sie fragte mehrmals, wie es denn ihrem Baby geht. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass es nicht mehr lebte. Immer noch hatte ich die leise Hoffnung, mich geirrt zu haben. Der zusätzliche Stress, wenn sie zu diesem Zeitpunkt realisiert hätte, dass ihr Kind nicht mehr lebte, hätte ihren Zustand verschlechtern und sie töten können. Und so sagte ich ihr, dass ich es nicht wisse und wir sie nach Lampedusa bringen werden, wo sie und ihr Kind besser behandelt werden können als auf dem Schiff.
Wie wurden die Menschen nach der Anlandung in Vibo Valentia behandelt?
Kaum hatten wir angelegt und das Schiff vertäut, kamen viele Personen an Bord: Polizei, ein Rechtsmediziner, ein Arzt mit mehreren Mitarbeitern, ein Übersetzer, der nicht wusste, wo er anfangen sollte, weil alle durcheinander sprachen. Ich führte den Arzt und seine Mitarbeiter ins Hospital, um ihnen die Patient*innen zu übergeben. Als ich ihnen den jungen Mann mit den Verbrennungen vorstellen wollte und den Arztbrief übergab, ignorierten sie diesen mangels Englischkenntnissen. Stattdessen gingen sie auf den jungen Mann zu, packten ihn an den verbrannten Armen, woraufhin er vor Schmerz aufschrie. Gleich darauf packte einer von ihnen in seine Hose und wollte auf die Genitalien schauen. Unser Krankenpfleger Kenneth ging dazwischen und wurde richtig wütend. Er schrie ihn auf Italienisch und Englisch an, er solle dem Verletzten gegenüber gefälligst Respekt zollen. Der aber rechtfertigte sich, er müsse ihn untersuchen. Das könne er tun, konterte Kenneth, aber er solle fragen und erklären, was er tut. Der Andere entschuldigte sich daraufhin halbherzig und tätschelte mit einer widerlichen Geste dem jungen Mann den Kopf und kniff ihm leicht in die Wange, wie einem ungezogenen Kind.
Sie mussten immer wieder gegen unwürdige Praktiken einschreiten?
Ja, und den jungen Mann trösten und ihm sagen: »Das sind nicht die Ärzte, die dich behandeln werden, sie sind nur für den Transport zuständig«, bis er dann im Krankenwagen war und ich ihm ein letztes Mal winken und alles Gute wünschen konnte und die Tür sich schloss.
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