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Düstere Vorahnungen

Julius H. Schoeps über die Juden und die Deutschen, Visionen und Verbrechen und eine große Ratlosigkeit

  • Interview: Karlen Vesper
  • Lesedauer: 11 Min.
Julius H. Schoeps in seinem Büro im Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien
Julius H. Schoeps in seinem Büro im Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien

Professor Schoeps, Ihr Vater hat die Synagoge in der Berliner Fasanenstraße 1938 brennen sehen. War dies für ihn, der deutsch-national gesinnt war und 1933 gar einen Verein gegründet hatte, der sich »Der deutsche Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden« nannte, der Anstoß, Deutschland zu verlassen?

Sein Entschluss reifte erst allmählich. Mit der zunehmenden Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Er war kein Anhänger von Hitler und den Nazis. Er dachte anfangs, wie viele damals, dass man sich mit den neuen Machthabern arrangieren könne und der Spuk bald vergehen würde. Das war ein Irrtum. Die letzten Bücher, die er in seinem Vortrupp-Verlag veröffentlichen konnte, befassten sich mit den Möglichkeiten der Auswanderung.

Ihr Vater ist aber nicht nach Palästina emigriert.

Nein, er war kein Zionist. Er verstand sich als deutscher Jude und bekannte sich zur deutschen Kultur. Ja, er war beeinflusst und beeindruckt von Oswald Spengler, Stefan George, Ernst Jünger, Ernst Niekisch und Otto Strasser. Ein Nazi war er nicht, sympathisierte aber mit den Ideen der »Konservativen Revolution«.

Und einen »preußischen Sozialismus«.

Interview

Julius H. Schoeps, geboren 1942 im schwedischen Djursholm, der zu seinen Ahnen den Philosophen und Aufklärer Moses Mendelssohn zählt, studierte Geschichte und Politologie sowie Kommunikations- und Theaterwissenschaften in Erlangen, war Professor in Duisburg sowie Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Wien und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien Potsdam. Seit 2003 setzt er sich für Restitutionen ein. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören eine opulente Familiensaga der Mendelssohns sowie eine Biografie von Theodor Herzl; jüngst erschienen von ihm »Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe« (2018) sowie »Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848« (2022) und »Was sagen Sie dazu, Herr Schoeps? Der Streit um das Gedenken und Erinnern« (2023).

  • Listenpunkt

Na ja. Zeitweilig war er auf Abwegen, wenn er von einer Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland träumte.

Und in der Bundesrepublik war er dann Doktorvater eines Hohenzollernprinzen.

Der getäuscht hat, also ein Plagiat abgab. Worüber mein Vater natürlich schwer enttäuscht war.

So sind sie die Aristokraten …

(Lacht) Ja, später hat Friedrich Wilhelm dann aber eine neue Arbeit verfasst, noch mal promoviert. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Doch zurück zu meinem Vater: Er ist nicht in eine Schublade zu stecken. Er ist vielfach missverstanden, missinterpretiert worden. Ich habe inzwischen all seine Schriften studiert und versucht, mich mit seinem Denken auseinanderzusetzen. Mein Vater wollte Anfang der 70er Jahre, dass ich meine Habilitation zum Thema »Die deutschen Juden 1933 bis 1935« schreibe. Das habe ich damals nicht getan. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod bin ich diesem Wunsch gefolgt.

Warum gerade diese Zeitspanne?

Weil diese Jahre für die Irritationen und Illusionen vieler Juden wie bei meinem Vater stehen. Die Ernüchterung setzte dann mit dem Jahr 1935 ein, mit den massiven Entrechtungen, mit dem Herausdrängen der Juden aus der Gesellschaft. Dabei hatte der im August 1933 von NS-Agenten in seinem Marienbader Exil heimtückisch ermordete Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing schon früh vor Hitlers Machtantritt gewarnt. Im Sommer 1932 äußerte er sich sehr skeptisch über die Zukunft des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Er schrieb mit Blick auf die Stimmung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft: »Am leichtesten ist, dass man das Unbequeme verleumdet oder beseitigt. Am einfachsten wäre es, die 12 oder 14 Millionen Juden totzuschlagen.«

Es gab damals einen heftigen innerjüdischen Disput zwischen jenen, die sich als Zionisten begriffen, und denjenigen, die sich als deutsche Juden verstanden, als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Letztere waren der Auffassung, es gebe keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland, lediglich der Konfession oder der Weltanschauung.

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Vertrauend auf das 1812 in Preußen erlassene Edikt der Judenemanzipation, dem anderorts ähnliche Dekrete folgten.

Die Frage ist, inwieweit dieses Vertrauen berechtigt war. Und ob sich nicht am Vorabend des Machtantritts der Nazis antisemitische Positionen bei völkisch-national gesinnten Nichtjuden bereits derart verfestigt hatten, dass vermittelnde Gespräche keinen Sinn mehr machten. Lessing ist jedenfalls zu dieser Auffassung gelangt. Er sprach von einer »Tragödie unauflösbarer Widersprüche«.

Es gibt den Vorwurf, hätten sich die Juden nicht so angepasst, wäre ihnen die Katastrophe, die Shoah, erspart geblieben.
Vielleicht. Meine Familie war seit Jahrhunderten in Deutschland verwurzelt. Sie sahen sich als Deutsche an, als Deutsche jüdischen Glaubens. Die Umgebungsgesellschaft hat das allerdings anders angesehen.

Ihr Vater ist am 24. Dezember 1938 ausgereist.

Er hat erfahren, dass er auf einer Liste von Personen stand, die das Land nach dem Willen der Nazis nicht verlassen, ihnen nicht entkommen sollten.

Im schwedischen Exil lernte er Ihre Mutter kennen.

Dass Schweden ihn als Flüchtling aufgenommen hatte, sah er als einen ausgesprochenen Glücksfall an. Aber so richtig wohl fühlte er sich dort nicht. Und für meine Mutter, aus der Berliner Oberschicht stammend, war es ein regelrechter Schock, dass ihre schwedische Verwandtschaft, Aristokraten, es ablehnten, ihr zu helfen. Sie erzählte mir später, dass ihr schwedischer Onkel, Kammerherr beim schwedischen König, mit dem Gedanken gespielt habe, sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen.

Ihre Großeltern väterlicherseits haben Sie nicht kennenlernen dürfen.

Nein. Meine Großeltern väterlicherseits, Julius und Käthe Schoeps, mussten noch die Zwangsvornamen »Israel« und »Sarah« in ihre Pässe eintragen lassen und sich den Gelben Stern anheften. Als sie einen Antrag auf Ausreise stellten, 1941, war es zu spät. Mein Großvater starb in Theresienstadt, meine Großmutter wurde unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz ermordet.

Meine Großmutter mütterlicherseits, Marie von Mendelssohn-Bartholdy, floh nach England. Zuvor hatte mein Großvater mütterlicherseits, Felix Busch, der eigentlich Friedländer hieß und ein direkter Nachkomme des Mendelssohn-Schülers und Textilfabrikanten David Friedländer war, im Sommer 1938 Selbstmord begangen. Ein Freund, Johannes Popitz, Deutsch-Nationaler, der später als Widerständler des 20. Juli von den Nazis hingerichtet worden ist, hat ihm über die von der Nazi-Führung geplanten Maßnahmen gegen die Juden berichtet. In seiner Verzweiflung ist er während der Zugfahrt von Berlin zurück nach Tutzing aus dem fahrenden Zug gesprungen.

Und Sie mussten dann in der Bundesrepublik ein Internat besuchen, auf dem Kinder von hohen Nazifunktionären untergebracht waren? Was für eine Zumutung! Wusste ihr Vater das nicht?

Das habe ich mich oft gefragt.

Und Ihren Vater nicht?

Nein. Was sich mein Vater dabei gedacht haben mag, mich auf das Internat auf dem Obersalzberg zu schicken, wo zuvor Hitler und seine Paladine residierten, ist mir bis heute rätselhaft. Es war geradezu paradox, dass ich als kleiner jüdischer Junge aus dem Exil die Schulbank mit Kindern von Nazigrößen drücken musste. Zeitweilig mit dem Sohn des Stellvertreters des »Führers«, Rudolf Heß, der übrigens bis zum Schluss der Überzeugung war, dass sein Vater, der letzte Insasse im Spandauer Gefängnis der Alliierten, ermordet worden ist und nicht im Alter von 93 Jahren eines natürlichen Todes starb. Im Internat war auch der Sohn des umstrittenen »Vertriebenenministers« in der Regierung von Konrad Adenauer, Theodor Oberländer. Ich war damals zehn Jahre alt und wusste natürlich nicht, dass er für die Ermordung von 5000 Juden in Lemberg, dem heutigen ukrainischen Lwiw, verantwortlich war.

Ihr Vater ist 1946 zurückgekehrt und hat Sie und Ihren jüngeren Bruder zwei Jahre später aus Schweden zu sich geholt.
Ja. Er hatte zunächst einen Ruf an die Leipziger Universität erhalten, auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaften seines Doktorvaters Joachim Wach …

… da wären Sie ja beinahe DDR-Bürger geworden.

(Lacht) Ja, ich wäre dann in der DDR aufgewachsen. Vielleicht wäre ich dann ein LPG-Vorsitzender geworden oder über die Mauer geklettert. Ich weiß es nicht. Es kam anders. Mein Vater entschied sich, einem Ruf an die Universität Erlangen zu folgen.

Sie sind Historiker geworden, hätten aber auch Schauspieler werden können, wenn Sie Ihre studentische Anfänge konsequent fortgeführt hätten?

Nun ja, als Professor ist man auch eine Art Schauspieler. Man steht am Katheder und präsentiert sich gegenüber den Studenten.

Als Mitglied einer studentischen Theatergruppe hatten Sie auch Kontakt zu einem Altnazi.

Hans Schwerte, der eigentlich Hans Ernst Schneider hieß und als SS-Hauptsturmführer für Himmlers »Ahnenerbe« führend tätig war. Er unterstützte unsere »Studiobühne«. Ich bewunderte damals sein rhetorisches Talent und sein didaktisches Geschick. Er vertrat liberale Positionen, nichts wies auf eine Nazivergangenheit hin. Sie wurde erst Mitte der 90er Jahre öffentlich.

In der frühen Bundesrepublik gab es viele über Nacht von Demokratiefeinden in lupenreine Demokraten gewandelte Deutsche. Wölfe im Schafspelz. Was sagen Sie zu dem enormen Stimmenzuwachs der AfD in ost- wie westdeutschen Bundesländern?

Schrecklich, schrecklich.

Es gibt wieder tätliche Übergriffe auf Juden auf offener Straße, Schmierereien an Synagogen und SS-Runen auf Stolpersteinen. Haben Sie Angst vor diesem Deutschland?

Es bereitet mir große Sorgen. Es wiederholt sich vieles, was wir aus der Geschichte kennen. In Tangermünde, im »Land der Frühaufsteher«, wie Sachsen-Anhalt für sich wirbt, soll ein nach Anne Frank benannter Kindergarten umbenannt werden. Ich finde das unglaublich. Das ist ein Indikator für das, was sich momentan in Deutschland vollzieht. Ein verhängnisvoller Wandel, eine beängstigende Rückentwicklung.

Rückfall in barbarische Zeiten?

Hoffentlich nicht. Aber wir erleben es überall. Es ist kein deutsches Phänomen, es ist ein weltweites. Der Antisemitismus ist wieder im Kommen. Und das macht mir natürlich große Sorgen.

Laut einem just veröffentlichten BKA-Bericht waren im dritten Quartal dieses Jahres 540 in der Bundesrepublik antisemitische Straftaten zu verzeichnen, eine enorme Steigerung zum Vorjahr.

Der Antisemitismus nimmt wieder zu. Und wo das münden kann, möchte man sich nicht vorstellen.

Robert Habeck hat jüngst ein leidenschaftliches Statement gegen Antisemitismus abgegeben ...

Eine gute Rede. Ich habe sofort meine Zustimmung auf Facebook geäußert.

Besteht nicht die Gefahr, dass der gegenwärtige Fokus auf muslimischen Antisemitismus vom originär deutschen ablenkt? Seit Jahren wird neben dem offenen ein latenter Antisemitismus in Deutschland bei 20 Prozent der Bevölkerung registriert.

Das ist korrekt. Der Antisemitismus in Deutschland kommt von rechts, aber es gibt auch einen auf Israel bezogenen Antisemitismus, der in der Mitte der Gesellschaft zu spüren ist. Israel wird dämonisiert und delegitimiert. Israel wird zunehmend als Staat gesehen, den es eigentlich nicht geben dürfte.

Ich habe ein Problem mit dem Schlagwort vom »importierten Antisemitismus«.

Es ist kein importierter, es ist ein reimportierter Antisemitismus. Es sind die alten christlich-deutschen Vorurteilsbilder, die in die islamische Welt getragen worden sind und jetzt wieder nach Europa zurückkommen.

Wie meinen Sie das?

Auf Straßendemonstrationen von Palästinensern sind beispielsweise Rufe wie »Kindermörder« oder »Tod den Juden« zu hören.

Ich vermute, seit einem Monat blutet auch Ihnen das Herz?

Aber natürlich. Es ist entsetzlich. Ich frage mich: Wo soll das enden? Ich wünschte mir eine politisch-diplomatische Lösung, die von allen akzeptiert wird. Aber gegenwärtig sehe ich eine solche nicht.

Woran liegt es?

Europa hat eine Mitschuld an den fatalen Entwicklungen im Nahen Osten. Als Mandats- oder Besatzungsmächte nach dem Untergang des Osmanischen Reiches zum Ende des Ersten Weltkrieges, aber auch durch den virulenten Antisemitismus in Frankreich, Großbritannien, Deutschland zuvor und danach. Theodor Herzl schrieb seinen »Judenstaat« aufgrund der Dreyfus-Affäre in Frankreich. Trotzdem oder gerade deshalb würde ich es mir sehr wünschen, dass Europa stärker mit hilft, diesen Konflikt zu regulieren.

Zu regulieren? Nicht entschärfen, aufheben, lösen?

Regulieren ist schon sehr viel.

Sie haben mich vor vielen Jahren auf ein Zitat von Herzl aufmerksam gemacht, eine Mahnung an seine zionistischen Anhänger.

»Macht keinen Unsinn, während ich tot bin.«

Ist Herzls Vision einer sicheren Heimstatt für Juden gescheitert?

Das hört man jetzt häufiger. Aber Herzl konnte künftige Geschehnisse nicht voraussehen. Er war noch der Überzeugung, Araber und Juden könnten zusammenleben. Es sei gleichgültig, wo und wie die Menschen beten: in einer Synagoge, einer Kathedrale, in einer Moschee oder in einem Konzertsaal. Diese Äußerung hat mir immer sehr gut gefallen.

Das jahrzehntelange Leid auf palästinensischer Seite ist immens, nicht zu ignorieren. Und auch wenn man die Nakba, die Flucht und Vertreibung von 700 000 Palästinensern ab 1948 nicht mit dem industriell betriebenen, systematischen millionenfachen Mord der deutschen Antisemiten an den Juden gleichsetzen, ja noch nicht einmal vergleichen kann …

Natürlich nicht!

… es ist das Trauma des palästinensischen Volkes.

Die Situation ist verzwickt. Israel ist ein kleines Sandkorn inmitten eines großen arabischen Sandkastens.

Was ist zu tun, um dem Leiden und Sterben auf beiden Seiten ein Ende zu bereiten?

Ich weiß es nicht.

Ich hatte gehofft, von Ihnen einen Vorschlag zu hören.

Da muss ich Sie enttäuschen. Es hat in der Vergangenheit so viele Versuche gegeben, Frieden zu schaffen, den Konflikt beizulegen, aber nichts hat funktioniert. Wie das enden wird? Ich bin ratlos.

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