Argentinien: Die Wahl des kleineren Übels

Bei der Stichwahl in Argentinien geht es auch um die zukünftige wirtschaftliche Ausrichtung des Landes

  • Jürgen Vogt
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn am Sonntag in Argentinien die Stichwahl um das Präsidentenamt stattfindet, kann es in den Wahllokalen voll werden. Im Land am Rio de la Plata herrscht für die 34,5 Millionen Stimmberechtigten Wahlpflicht. Sie entscheiden, wer in den kommenden Jahren das stolze, aber schwer kriselnde Land regieren wird, der Wirtschaftsminister der linksprogressiven Regierung, Sergio Massa oder der selbsterklärte Anarcho-Kapitalist Javier Milei. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einer knappen Entscheidung.

Massa war mit 36,7 Prozent der Stimmen als Erstplatzierter in die Stichwahl eingezogen, Milei mit knapp 30 Prozent als Zweiter. Beiden war es gelungen, ihre potenziellen Wähler*innen in der ersten Runde zu mobilisieren. Sieger der Stichwahl wird sein, wer die meisten Stimmen der ausgeschiedenen Kandidat*innen gewinnen kann.

Unentschlossene entscheiden die Wahl

Etwa die von Patricia Bullrich vom rechtsliberalen Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsan für den Wechsel), die mit knapp 24 Prozent auf dem dritten Platz landete. Keine 48 Stunden nach dem ersten Wahlgang am 23. Oktober hatten der konservative ehemalige Präsident Mauricio Macri und seine Kandidatin Bullrich zur Unterstützung von Milei aufgerufen. Rein rechnerisch bedeutet dies eine Mehrheit für den 53-jährigen libertären Wirtschaftswissenschaftler.

Wahlentscheidend werden jedoch die rund 20 Prozent der Stimmberechtigten sein, die für keinen der beiden Kandidaten stimmen wollen und sich noch immer fragen, wer von ihnen das kleinere Übel sein könnte. Die Unentschlossenen wollen einerseits ein Ende der Kirchner-Regierungen, andererseits aber auch keinen ultrarechten Anarcho-Kapitalisten im Präsidentenamt. Viele werden erst in der Wahlkabine entscheiden, ob und für wen sie ihre Stimme abgeben. Erwartet wird eine hohe Zahl von Umschlägen ohne Stimmzettel, das sogenannte voto en blanco.

Argentinien ist in einer schweren Wirtschaftskrise

Argentiniens Inflationsrate war im Oktober im Jahresvergleich auf 142,7 Prozent gestiegen. Dass Wirtschaftsminister Massa trotz des immensen Absturzes des Peso, für den er zumindest politisch verantwortlich ist, in den Umfragen gleichauf mit Milei ist, verblüfft. Wenig geholfen hat den noch Unentschlossenen das Fernsehduell der beiden, bei dem Massa eloquent die ganze Erfahrung seiner über 20-jährigen Politikerkarriere ausspielen konnte, während der erst vor zwei Jahren in die Politik eingestiegene Milei in Sachen Regierungskompetenz ab und an ins Schleudern geriet.

Milei ist nicht nur wegen seiner Vorschläge zur Dollarisierung der Wirtschaft, zur Abschaffung der Zentralbank sowie einer radikalen Verschlankung des Staates für viele nicht wählbar. Mit seiner marktradikalen Vision rechtfertigt Milei auch den freien Verkauf von Schusswaffen und den Organhandel, leugnet die Verbrechen der Diktatur und will das öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem marktkonform umgestalten. Dass er auch gegen Minderheiten in der LGBT+-Gemeinschaft hetzt, macht vielen einfach Angst.

Milei könnte mit rechten Parolen gewinnen

Dass Milei dennoch gute Chancen hat, die Wahlen zu gewinnen, liegt an der tiefen Frustration vieler Menschen über den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang der letzten 15 Jahre. Inzwischen lebt fast die Hälfte der 46 Millionen Argentinier*innen in Armut. Dass sich die sozialen Proteste bisher in engen Grenzen halten, liegt an der geringen Arbeitslosenquote. Allerdings reichen die Einkommen aus den meist prekären Arbeitsverhältnissen in immer weniger Familien aus, um über die Runden zu kommen. »Objektiv gesehen leben die Menschen immer schlechter«, sagt Luis Campos von der Beobachtungsstelle für soziale Rechte der alternativen Gewerkschaft Central de Trabajadores de la Argentina.

»Milei ist wütend, er tut nicht nur so, er ist es wirklich und das spüren seine Wähler«, so Luis Campos. Die Verbindung zwischen Milei und seiner Anhängerschaft ist jedoch nicht nur sehr emotional, sondern auch rational. »Alle bisherigen Alternativen haben nur weiter ins Elend geführt. Deshalb erscheint jemand, der dem Ganzen ein Ende setzen will, als eine vernünftige Option«, fügt er hinzu.

Massa schürt Angst vor verschärfter sozialer Krise

Sergio Massas Wahlkampf ist auf die Zukunft ausgerichtet. Der Wirtschaftsminister tritt auf, als hätte er mit der aktuellen Regierung und der sozialen Krise nichts zu tun und viele nehmen es ihm ab. Dass sich der 51-Jährige als das Licht am Ende des Tunnels präsentiert, wird mit einer Angstkampagne kombiniert, die die Folgen von Milei und seinen Vorhaben anschaulich ausmalt. Ein Beispiel ist die mögliche Streichung der Fahrpreissubventionen. Plötzlich war überall von der Formel »Massa-Tarif 47 Peso – Milei-Tarif 1300 Peso« die Rede.

»Am Wahlabend wird klarer sein, welche makroökonomische Ordnung uns bevorsteht«, sagt Luis Campos. Eine Sparpolitik erwartet er von beiden. »Mileis Vorhaben weisen klar in Richtung steigende Arbeitslosigkeit und zunehmende soziale Spannungen. Massa wird versuchen die Wirtschaft so zu ordnen, dass das Konfliktniveau nicht zu sehr ansteigt«, so Campos. Klar ist aber schon jetzt, dass der zukünftige Präsident nur etwas weniger ungewollt sein wird als der Wahlverlierer.

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