Eindringling in der heilen weißen Musikwelt?

Die Sing-Akademie zu Berlin konfrontiert den Revolutionär Beethoven mit dem afroamerikanischen Minimalisten Julius Eastman

  • Florian Neuner
  • Lesedauer: 5 Min.
Bassbariton Davóne Tines war der Star des Abends.
Bassbariton Davóne Tines war der Star des Abends.

Auch nach 200 Jahren ist Beethovens »verfremdetes Hauptwerk« (Adorno) noch immer eine Herausforderung für seine Interpreten. Zwar steht die Missa solemnis häufig auf den Konzertprogrammen, aber die den liturgischen Rahmen aufbrechende Messkomposition erreichte nie die Popularität etwa der 9. Symphonie. Der späte Beethoven war ein radikaler Neuerer, der die Musiker an Grenzen führt. So ist in der Missa solemnis einiges in kaum spielbaren Lagen notiert: Man hört den Musikern die Anstrengung an und soll das auch. Nikolaus Harnoncourt sprach davon, dass Beethoven das Scheitern mitkomponiert habe: »Er wollte das Unmögliche aufzeigen. Er schreibt für die Streicher Töne, die nicht mehr auf dem Griffbrett sind, die quasi in der Luft gegriffen werden müssen.«

Beethoven komponierte die Missa solemnis für seinen Schüler Erzherzog Rudolf von Österreich, der 1820 als Erzbischof von Olmütz inthronisiert werden sollte, wollte »zur Verherrlichung dieses feierlichen Tages« beitragen. Freilich wurde die Messe erst drei Jahre später fertig und hätte durch ihre schieren Dimensionen ohnehin den Rahmen des Hochamts gesprengt. Beethoven, der sich mit der Messkomposition selbst beauftragt hatte, wandte sich auf der Suche nach Subskribenten auch an Carl Friedrich Zelter, den Direktor der Sing-Akademie zu Berlin, dem er den seltsamen Vorschlag machte: »Es dörfte wenig fehlen, daß es nicht beynahe durch die Singstimmen allein aufgeführt werden könnte.« Eine A-capella-Version der Missa scheint kaum vorstellbar, denn das Orchester spielt eine höchst eigenständige Rolle. Kai-Uwe Jirka führte letzten Samstag Teile der Messe mit der Sing-Akademie auf; verstärkt um die Berliner Singakademie, die Männer des Staats- und Domchors Berlin und die Kammersymphonie Berlin. Er könnte sich durch den Brief an Zelter ermutigt gefühlt haben, denn der gut disponierte Chor dominierte eindeutig das Klangbild seines Breitwand-Beethovens.

Die Missa solemnis erklingt derzeit an vielen Orten. Die Sing-Akademie, um deren Programme sich der Dramaturg Christian Filips kümmert, wäre aber nicht die Sing-Akademie, wenn sie in der Berliner Gedächtniskirche einfach eine weitere Aufführung angeboten hätte. Aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums der Missa solemnis hatte man nicht weniger im Sinn, als mit den Mitteln der Montage »A Mass for Our Time« zu kreieren. So waren aus Beethovens Messe nur Kyrie, Credo und Agnus Dei zu hören – gewissermaßen mit der Lizenz Beethovens, denn diese drei Teile wurden 1824, nach der Uraufführung der Missa in St. Petersburg, in Wien erstmals gemeinsam mit der 9. Symphonie gebracht. Flankiert wurden die Teile in Berlin von Musik des US-amerikanischen Komponisten Julius Eastman (1940–1990) – drei Stücken für Stimme solo und einem für Streichorchester. Musikalisch hätte der Kontrast kaum größer sein können: zwischen dem großen Apparat und der Solostimme, auch zwischen der polyphonen Partitur Beethovens und Eastmans ganz eigentümlichen litaneiartigen Wiederholungsschleifen.

Dem späten Beethoven mit Montagetechnik zu Leibe zu rücken, ist kein neuer Ansatz. Michael Gielen pflegte die 9. Symphonie mit Schönbergs »Überlebenden aus Warschau« zu brechen, die »Freude schöner Götterfunken« gewissermaßen in die Schranken zu verweisen. Bei der Missa solemnis liegen die Dinge anders. Denn das Werk ist in sich schon gebrochen, für manche Deuter durchzogen von Glaubenszweifeln, und die »Bitte um innern und äußern Frieden« im Agnus Dei ist bestürzend aktuell. An dem eindrücklichen Berliner Konzertabend standen sich zwei Unangepasste gegenüber – ein revolutionärer Komponist, der vor 250 Jahren geboren wurde, und ein Komponist, der letztlich daran scheiterte, Kunst und Lebenspraxis – das große Versprechen der Avantgarden – in eins zu bringen. Die Musik von Julius Eastman, die in den letzten Jahren wiederentdeckt wird, markiert gewiss eine eigenständige, originelle Position innerhalb der Minimal Music. Das neu entflammte Interesse hat seine Ursachen aber wohl eher darin, dass der schwarze US-Amerikaner als Gegen-Rollenmodell zu den »weißen« Avantgarden eine perfekte Projektionsfläche bietet. Eastman provozierte damit, seine »Blackness« und seine Homosexualität offen zu thematisieren und gab seinen Stücken Titel wie »Evil Nigger« oder »Gay Guerrilla«. Der Bassbariton Davóne Tines, Star des Berliner Abends, berichtet davon, wie wichtig die Entdeckung Eastmans für seinen künstlerischen Werdegang war, hatte es an den Musikhochschulen doch keine schwarzen und schwulen Vorbilder gegeben. Mit dem Musikbetrieb der 1970er und 1980er Jahre kam Eastman nicht zurecht, wurde suchtkrank, zeitweise obdachlos; bei einer Wohnungsräumung gingen viele seiner Partituren verloren. Auch für das Berliner Konzert mussten Stücke auf der Grundlage von Aufnahmen rekonstruiert werden.

Davóne Tines war das Bindeglied zwischen Beethoven und Eastman – überzeugender Interpret der Solostücke Eastmans und Solo-Bassist in Beethovens Missa. In einem weißen, ärmellosen Umhang – einem Priestergewand? – schritt er singend durch den Mittelgang der Gedächtniskirche nach vorne, mit dem »Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc«, einer säkularen Anrufung. Sein Auszug aus dem Ensemble im Altarraum beendete denn auch den intensiven Abend – »let me rest in piece«, passend zu dem aufwühlenden Agnus Dei, das davor gespielt wurde. Als Teil des den Konventionen entsprechend in Abendgarderobe auftretenden Ensembles wirkte der Sänger als einziger »Darsteller« wie ein Fremdkörper – ein Eindringling in die heile weiße Musikwelt? Mit den anderen Solisten, Hanna Herfurtner, Olivia Vermeulen und Volker Arndt bildete Davóne Tines jedenfalls ein hervorragendes Solistenquartett. In einer Lecture am Tag nach dem Konzert beschrieb er die Qualitäten Eastmans so: Der habe Strukturen geschaffen, in denen die Interpreten sie selbst sein könnten.

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