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Fliegen im Stadtbad "Hans Rosenthal"
9. November: Unsere Autorin geht schwimmen am bedeutungsvollsten Tag des Jahres
»Hatt’ ich früher immer, dicke Beine! Jetzt nicht mehr,« sagt der ältere Herr, der im Strömungskanal hängt und seine Knie massieren lässt. Ich nicke ihm zu, treibe mit dem Wasser fort und ankere an der nächsten kraftvoll wasserspeienden Düse in Hüfthöhe.
9. November 2023. Der Tag beginnt mit einem Zeitzeugengespräch am Paul-Natorp-Gymnasium in Berlin Friedenau, wir sind zwei Handvoll Menschen, die den Schüler*innen aus ihrem Leben erzählen – Ältere wie Ruth Winkelmann zum Beispiel, wie sie sich als junges Mädchen in Berlin vor den Nazis verstecken musste und heimlich im Strandbad Lübars schwimmen ging. Ich, wie ich in den Achtzigerjahren in meiner Heimatstadt zum Punk kam, Punk-Konzerte organisierte, meinen Studienplatz verlor und schließlich versuchte, in den Westen abzuhauen. Mein Kumpel und ich wollten von Aserbaidschan in den Iran, weiter in die Türkei und nach Westberlin. Wir wurden geschnappt, den 9. November 1989 erlebte ich im Gefängnis.
Schüler*innen moderieren das Gespräch, stellen kluge Fragen, geben mir ein herzliches Feedback, wir gehen strahlend auseinander. Fröhlich laufe ich durch Schöneberg. Biege nach etlichen Straßen, Autobahnzubringer, Kirche, Friedhof und Museum auf einen großen Platz. Eine Schwimmerin aus Marmor reckt auf ihrem Sockel die Brust in den Herbst, buntes Laub treibt vorbei, hinter Platanen und Wiese liegt der rostbraun verklinkerte Bau des Stadtbades Schöneberg »Hans Rosenthal«. Im Foyer lockt ein Riesenglücksrad, Treppen führen zum Café hinauf, ein breiter Fensterschlitz erlaubt den Blick ins Schwimmbecken, darin zappeln Kinderbeine.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
Der Namensgeber des denkmalgeschützten Bades lernte hier schwimmen, erzählt eine Gedenktafel. Der Showmaster Hans Rosenthal (ZDF-Show »Dalli-Dalli – ein Fragespiel für Schnelldenker«) hatte sich als Jude ebenfalls vor den Nazis verstecken müssen und begann als 25-Jähriger, Schwimmen zu lernen. »Zu Rekorden werde ich es gewiß nicht mehr bringen. Aber ich kann mich über Wasser halten – und niemand weiß besser als ich, wie wichtig das ist«, wird er zitiert.
Über dem Umkleideraum rauscht Wasser in mächtigen Röhren, indirektes Licht, nixenschwanzfarbene Spind-Türen. Duschen, Treppen hoch und schwupps, öffnet sich eine Halle mit 25-Meter- und Kinderbecken, Sprungtürmen, Oberlicht und Glasfenstern in Himmel und Stadt hinaus. Links schaue ich in einen Hinterhof, Blätter trudeln ans Glas. Auf der geleinten Bahn lernen Kinder Schwimmen, ich reihe mich im gut gefüllten Becken bei den geradeaus und sehr rücksichtsvoll Schwimmenden ein.
Komme ins Gleiten, vergesse Ort und Zeit. Das Wasser hebt alles auf. Schmerzen, Sorgen, das Empfinden des eigenen Körpers. Wasser trägt und ist doch geschmeidig, transparent. Wenn der Rhythmus der Armbewegungen stimmt, wenn ein bestimmtes Gleichmaß erreicht ist, gleitet der Körper mühelos voran, passt sich die Atmung an. Wird das Vorwärtsschießen zum Fliegen. Ich fliege und atme, schlage an, wende, spüre nur Kraft und Weite, jauchze innerlich.
Eine halbe Stunde später liege ich im Sole-Becken und blinzle in neonblaue Unterwasserlichter. Nächstes Jahr sollen Lüftung und Fassade des Bades saniert werden, sind die Whirlpools deshalb schon geschlossen? Egal. Neben mir lümmeln ukrainische Pärchen, draußen graut der Nachmittag. Im Erdgeschoss-Anbau des beinahe hundertjährigen Bades endet die 53-Meter-Groß-Rutsche. Kreischende Jungs werden ausgespuckt, als ich die Gummiklappe zum Außenschwimmbereich passiere und hoffe, dass es im Strömungskanal Massagedüsen gibt.
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