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Marcel Helbig: Nicht Migration spaltet die Städte
Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig über die Beziehungen von Armut und Wohnort
Kürzlich erregte FDP-Vize Wolfgang Kubicki mit dem Vorschlag für eine Deckelung des Migrantenanteils auf 25 Prozent pro Stadtteil die Gemüter. Er wolle die Entstehung von Banlieues wie in Frankreich verhindern. Stehen wir wirklich schon kurz vor »französischen Verhältnissen«?
Zunächst einmal verkennt Kubicki mit der Grenze von 25 Prozent Personen mit Migrationshintergrund die Realität in vielen Städten. Offenbach hat mittlerweile einen Anteil von Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft von 37 Prozent. Auch Frankfurt am Main, Ludwigshafen, Pforzheim, Heilbronn und München liegen mittlerweile bei 25 bis 30 Prozent. Nimmt man zu diesen Personen auch noch jene mit deutschem Pass hinzu, die einen Migrationshintergrund haben, ist der Anteil noch deutlich höher.
Wie schaut es auf der Ebene der Stadtteile aus?
In den großen westdeutschen Städten gibt es einen nennenswerten Anteil von Stadtteilen, in denen mehr als 50 Prozent der Bewohner eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Einen Stadtteil mit einem Anteil von über 30 Prozent gibt es in fast jeder westdeutschen Stadt, mittlerweile sogar in einigen ostdeutschen Städten. Selbst wenn man einen Anteil von 25 Prozent Personen mit Migrationshintergrund erreichen wollte, ist dies unrealistisch. Dass gerade reiche Städte wie Frankfurt am Main, München und Heilbronn einen Ausländeranteil von 25 Prozent aufweisen, zeigt zudem, dass Migranten ganz unterschiedliche soziale Voraussetzungen haben. Ein britischer Banker in Frankfurt oder ein indischer Ingenieur in München trägt nichts zu sozialen Problemen bei, die Herr Kubicki im Blick hat. Viel wichtiger ist es, dass in vielen Stadtteilen in Großstädten mehr als 50 Prozent aller Kinder arm sind. Diese Armutslagen sollten wir im Blick haben. Allerdings hängt Kinderarmut und Ausländeranteil von Nachbarschaften immer stärker zusammen.
Sie sehen also das Problem nicht wie Herr Kubicki in ethnischen Parallelgesellschaften, sondern in sozialen?
Sicherlich sollte man auch ethnische Parallelgesellschaften in den Blick nehmen und offen darüber reden. Ich denke aber, dass es viel wichtiger ist, der Ballung von Armut in unseren Städten entweder entgegenzuwirken oder die Folgen zu bearbeiten.
Konkrete Vorschläge, wie man den Migrantenanteil in den Stadtteilen deckeln könnte, sucht man in den Äußerungen von Wolfgang Kubicki vergeblich. Gäbe es denn überhaupt praktikable Wege für eine stärkere soziale Durchmischung in den einzelnen Stadtteilen?
Das ist insgesamt sehr schwierig. Im Allgemeinen folgt die Verteilung von Migranten beziehungsweise von Armut Marktmechanismen. Wir haben in vielen Städten Stadtteile, in denen die Mieten vergleichsweise niedrig sind, in anderen sind sie relativ hoch. Die Personen, die es sich nicht leisten können, zu denen auch oft Migranten gehören, haben nur wenige Nachbarschaften zur Auswahl, wo sie sich eine Wohnung leisten können oder wo der Staat ihnen eine Wohnung bezahlt. Ohne einen Eingriff in den Markt, etwa über Sozialwohnungen in besseren Wohnvierteln, gibt es kaum eine Möglichkeit, der sozialen Polarisierung in den Städten entgegenzuwirken. Derartige Maßnahmen sind aber teuer und wirken höchstens langfristig.
»Migrantisch« geprägter Stadtteil klingt sehr schwammig. Neben einer Ärztefamilie aus Schweden möchte in Deutschland wahrscheinlich jeder gern wohnen?
Richtig. Der Fokus sollte eher auf Armut denn auf Migrationshintergrund liegen. Beides hängt in Deutschland zwar zusammen. In vielen Fällen gibt es aber eben auch gut situierte Migranten, meist aus dem europäischen Kulturraum.
Die Verhältnisse erscheinen manchmal wie betoniert. Wer in Blankenese wohnt, bleibt in Blankenese und die Kinder werden auch dort leben. Wie durchlässig ist unser System noch? Sind Arm und Reich schon durchweg räumlich getrennt?
Es gibt Viertel, wo die sozialen Verhältnisse seit Jahrzehnten wie betoniert sind. Nehmen wir die alten Werftarbeiterquartiere in einigen norddeutschen Städten, die Arbeiterviertel in den alten Zechenstandorten im Ruhrgebiet oder die in Plattenbauweise errichteten Großwohnsiedlungen in den ostdeutschen Städten. Diese Viertel sind seit Jahrzehnten von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt und hier ist auch der Zuzug aus dem Ausland am höchsten. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Städten, wo die sozialen Grenzen weniger stark sind. So haben die hohen Mieten in den süddeutschen Städten dazu geführt, dass auch die Mittelschicht in Stadtteilen untergekommen ist, wo die Armutsquoten ehemals hoch waren.
In den neuen Bundesländern gab es nach der Wende viel leer stehenden Wohnraum. Sind hier heterogenere Stadtviertel entstanden?
Leerstand entsteht vor allem dort, wo Bewohner einer Stadt ungern leben wollen. In den ostdeutschen Städten waren das vor allem die Großwohnsiedlungen. Kommt dann ein hoher Anteil armer Personen in eine Stadt, wie etwa die Geflüchteten in den letzten zehn Jahren, dann finden sie vor allem dort bezahlbaren Wohnraum. Dies verstärkt soziale und ethnische Segregation besonders stark. Die ostdeutschen Städte sind heute stärker sozial gespalten als die westdeutschen Städte.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann stieß zuletzt ins gleiche Horn wie Kubicki und erweiterte dessen Forderungen auf eine Begrenzung des Migrantenanteils in deutschen Schulkassen auf »irgendwo bei 35 Prozent«. Was ist von dieser Forderung zu halten? Einfach Populismus oder wirklich eine gute Idee?
Prinzipiell sind diese Vorschläge insoweit richtig, dass es sinnvoll ist, dass nicht die einen Schulen die gesamten Herausforderungen von Migration, Integration und Armut tragen, wohingegen andere Schulen frei davon sind. Auch wenn es hierzu wenig Forschung in Deutschland gibt, ist davon auszugehen, dass die Bildungschancen in Schulen mit hohem Migrations-, aber vor allem hohem Armutsanteil niedriger sind als in Schulen mit niedrigen Anteilen. Wie die Forderung umgesetzt werden soll, erschließt sich mir jedoch nicht.
Inwiefern hängen Wohnort und Schule im heutigen Deutschland zusammen? Es gibt ja viele Versuche in den einzelnen Bundesländern, Schulen eher gemeinschaftlich zu denken.
Ich sehe nicht, dass der Wandel von drei- zu zweigliedrigen Schulsystemen irgendetwas zur Bildungsgerechtigkeit beigetragen hätte. Die Abschaffung der Hauptschule in einigen Bundesländern war die Reaktion darauf, dass nur noch wenige Eltern diese Schule wählten und sie zu sozialen »Resteschulen« wurden. Die Zusammenführung von Haupt- und Realschulen könnte sogar zur Folge gehabt haben, dass Eltern der Mittelschicht heute noch stärker das Gymnasium wählen. Besonders problematisch ist hierbei, dass der Lehrermangel die nicht-gymnasialen Schulen in vielen Bundesländern viel härter trifft als die Gymnasien.
Setzt Segregation eigentlich erst mit dem Wechsel nach der Grundschule ein?
Gerade in vielen größeren Städten ist die soziale Segregation von Grundschulen, vermittelt über die Wohnraumsegregation, fast genauso hoch wie im Bereich der Sekundarschulen. Hinzu kommt gerade im Grundschulbereich, dass privilegierte Schichten ihre Kinder auf private Schulen schicken, um nicht die öffentliche Grundschule im Einzugsgebiet besuchen zu müssen. Diese sozialen Unterschiede sehen wir zwischen öffentlichen und privaten Gymnasien eher nicht.
Marcel Helbig leitet den Arbeitsbereich für Strukturen und Systeme am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Der Sozialwissenschaftler forscht zur sozialen Ungleichheit im Bildungssystem.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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