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Was geschah in Kusel?
Tod des kurdischen Geflüchteten Hogir A. wirft Fragen auf, Inititiativen fordern Aufklärung
Am 4. November wurde der aus der Türkei stammende Hogir A. in einem Waldstück auf dem Gelände des Flüchtlingsheimes in Kusel erhängt aufgefunden. Mehr als drei Wochen zuvor war der 24-jährige Asylsuchende aus der Unterkunft in Rheinland-Pfalz verschwunden, seine Familie konnte ihn auf seinem Handy nicht mehr erreichen und informierte deshalb mehrmals die Polizei in Kusel und der Kreisstadt Kaiserlautern. Dort jedoch lag keine Vermisstenmeldung vor, auch nicht von der Ausländerbehörde, die den jungen Kurden eigentlich als »abgängig« bei der Polizei gemeldet haben sollte.
Eine solche Mitteilung hätte die Ausländerbehörde von der Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (AfA) auf dem Windhof in Kusel, wo A. untergebracht war, erhalten müssen, so verlangt es die Vorschrift: Wenn Personen der AfA länger als drei Tage ohne »Verlassenserlaubnis« fernbleiben, gelten sie als »abgängig« und müssen der Ausländerbehörde gemeldet werden. Diese hätte anschließend die Polizei informieren müssen, um eine Fahndungsausschreibung zu veranlassen. Wäre Hogir A. von der Polizei angetroffen worden, hätten die Behörden so seinen Aufenthaltsort erfahren können.
Zuständig für die Meldungen bei der Ausländerbehörde ist die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), die auch die AfA in Kusel sowie vier weitere Einrichtungen des Landes Rheinland-Pfalz betreibt, in denen Asylsuchende untergebracht sind. Die Meldung zur »Abgängigkeit« von A. wurde vorschriftsgemäß abgeschickt, bestätigte die ADD dem »nd«. Ob diese jedoch anschließend von der Ausländerbehörde an die Polizei weitergeleitet wurde, wollte eine Sprecherin mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht mitteilen.
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Die möglicherweise nicht eingehaltene Meldekette ist nur eine von mehreren Ungereimtheiten im Fall des toten kurdischen Flüchtlings. Hogir A. wurde nach eigener Aussage von Wachleuten schikaniert; diese sollen auch wiederholt Übergriffe gegen ihn begangen haben. Darüber und über die Bedingungen in der AfA Kusel – darunter vier erzwungene Zimmerverlegungen – hatte sich A. im April per Mail beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beschwert, das sich jedoch als nicht zuständig erklärte und ihn an die Ausländerbehörde oder Beratungsstellen verwies. Dieser Schriftwechsel liegt »nd« vor.
Zuvor habe Hogir A. mehrmals die Heimleitung über die Umstände informieren wollen, jedoch sollen sich Übersetzer geweigert haben, seine Anliegen zu bearbeiten. So berichtet es die Demokratische Föderation der Kurdischen Gesellschaft in Bayern und Baden-Württemberg (FED-GEL), die sich um Aufklärung des Falls bemüht, dem »nd«. Auch nach seiner erfolglosen Eingabe beim BAMF habe der junge Kurde bei der Heimleitung vorsprechen wollen, sei jedoch von den Übersetzern »ausgebremst« worden.
Neben Hogir A. hätten sich auch andere Asylsuchende in der Unterkunft in Kusel, deren Belegung nach Angaben der ADD derzeit bei 815 Personen liegt, über »psychische Gewalt« beschwert, sagt eine Sprecherin der kurdischen Initiative zu »nd«. Die ADD wolle davon aber keine Kenntnis haben, berichtet die Tageszeitung »Rheinpfalz«.
Eine weitere offene Frage: A.s Tod »durch Erhängen« soll frühestens ab dem 17. Oktober eingetreten sein. Der Leichnam befand sich demnach über zwei Wochen auf dem Waldstück der Flüchtlingsunterkunft. Nach Einschätzung von dort untergebrachten Personen könne sie dort aber nicht tagelang unentdeckt geblieben sein, so die Sprecherin der FED-GEL.
Auch andere Gruppen befassen sich mit den Vorkommnissen. Für den Montagabend haben Aktivisten verschiedener Ortsgruppen des Netzwerks Seebrücke sowie anderer Organisationen zu einem Online-Treffen eingeladen. Dabei sollen auch rechte Strukturen, die in Kusel bereits mehrfach gegen aus ihrer Sicht zuviele Geflüchtete in der Region demonstrierten, thematisiert werden.
Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger hat vergangene Woche ein Schreiben an das BAMF, die Behörden in Kusel sowie den dortigen Bürgermeister gerichtet. »Was mich am Tod von Hogir A. besonders erschüttert, ist die organisierte Verantwortungslosigkeit, die darin zum Ausdruck kommt«, sagt die Linke-Politikerin dazu »nd«. Jeder Todesfall müsse gleich gut aufgeklärt werden, unabhängig von der Herkunft des Verstorbenen.
In A.s Fall hat die Polizei ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen und wartet auf das Ergebnis eines toxikologischen Gutachtens. Man gehe aber derzeit davon aus, dass A. Suizid begangen habe.
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