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Gorillas und Co in Berlin: Gegenmacht aufbauen

Moderner Arbeitskampf kann aus Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte lernen – wie eine »Streikrevue« der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt

  • Günter Piening
  • Lesedauer: 5 Min.
Lärm auf Traditionslinie: Gorillas-Beschäftigte 2021 vor der Berliner Firmenzentrale
Lärm auf Traditionslinie: Gorillas-Beschäftigte 2021 vor der Berliner Firmenzentrale

»Wir haben unsere Macht gespürt und die Angst des Unternehmers.« Die Augen von Zeyneb Karlıdağ funkeln immer noch, wenn sie an diesen vierten Streiktag im Sommer 2021 denkt. Karlıdağ ist 23, stammt aus einer Arbeiterfamilie in der Türkei, studiert in Berlin Linguistik und war damals Auslieferin – sogenannter Rider – beim Lieferdienst Gorillas. Sie hatte das »Gorillas Workers Collective« mitgegründet, einen Kreis, der wöchentlich die miesen Zustände bei dem Lieferdienst diskutierte – auf Englisch natürlich, der Sprache der internationalen Berliner*innen, aus denen sich die Riders rekrutieren. Als ein Rider entlassen wurde, ging Karlıdağ zum Chef, forderte die Rücknahme der Entlassung und drohte mit Blockade eines Auslieferungslagers – die empfindlichste Stelle des Unternehmens. Aus der einen Blockade wurde eine ganze Serie, neue öffentlichkeitswirksame Aktionen kamen dazu, mehr Gorillas schlossen sich an. Vier Monate lang setzten sie das Unternehmen unter Druck.

Karlıdağ erzählt von ihren Erfahrungen in einem Video, das für die »Streikrevue 73-93-23« erstellt wurde. Die Jahreszahlen stehen für die großen Streikzyklen der vergangenen Jahrzehnte: 1973 waren es die »wilden Streiks« in Westdeutschland, die hauptsächlich von den damals »Gastarbeiter« genannten Arbeitsmigranten getragen wurden, 1993 die Kämpfe der Kali-Kumpel in Bischofferode gegen die Schließung der Gruben und die aktuelle Streikwelle, die neben den klassischen Branchen auch bisher als nicht organisierbar geltende Unternehmen des Dienstleistungssektors umfasst. »Welche Bezüge lassen sich zwischen den Streiks herstellen und was bedeuten solche Bezüge politisch in der Gegenwart?«, fragt die RLS und zieht mit Zeitzeugenvideos und einem Expert*innenpodium durch die Republik. Start war jüngst in Kreuzberg.

Wenn an 1973 als einschneidendes Jahr der westdeutschen Gewerkschaftsgeschichte erinnert wird, ist das keineswegs selbstverständlich. Darauf wies Aurora Rodonò hin, Expertin für die Geschichte der westdeutschen Arbeitsmigration und seit kurzem Kuratorin beim Berliner Stadtmuseum. Die »wilden Streiks« bei Ford, Pierburg und anderen Betrieben in Westdeutschland, wo die »Gastarbeiter« – oft waren es Arbeiterinnen – den Segen der Gewerkschaften nicht abwarteten und einfach drauflos streikten, waren lange Zeit nicht Teil der offiziellen Gewerkschaftserzählung. Erst eine junge Forscher- und Aktivistengeneration – häufig die Kinder der Streikenden – holte die Kämpfe ans Tageslicht. Rodonò ist zufrieden: »Heute sind diese wilden Streiks Teil nicht nur der gewerkschaftlichen Erinnerungskultur.« Landauf, landab gebe es Veranstaltungen, die die Selbstermächtigung der Arbeitsmigrant*innen ins Blickfeld rückten.

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Solche Aufmerksamkeit ist den Streiks von 1993 nicht zuteil geworden. Die Aktionen der Kali-Kumpel von Bischofferode 1993 markierten den Höhepunkt und gleichzeitig das Ende einer Streikwelle, die seit 1991 das Gebiet der vom Ausverkauf bedrohten DDR-Betriebe überzog. Der Gewerkschafter, Buchautor und einer der besten Kenner der ostdeutschen Arbeitskämpfe in den 90ern, Bernd Gehrke, stellt klar: »Die Jahre zwischen 1990 und 1994 sahen die umfangreichste selbstorganisierte Protestbewegung von Betriebsbelegschaften, die es seit 1923 in Deutschland gegeben hat.«

Die Belegschaften, die um die Erhaltung ihrer Betriebe kämpften, hatten einen gemeinsamen Gegner: die Treuhand, die mit ihrer Politik in nur drei Jahren ein beispielloses Betriebssterben verantwortete. Betriebe wurden besetzt, die Treuhandzentrale in Berlin wurde belagert, Straßen und Autobahnkreuze wurden blockiert. Narva, Belfa, KWO, TRO – auch in Berlin blieb kaum ein Betrieb unbestreikt. Trotzdem gelang es nicht, »aus den einzelnen Feuern einen Flächenbrand zu entfalten,« wie es die im Februar 1992 gegründete »Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte« auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Das Ende ist bekannt: Die Betriebe wurden plattgemacht, die Belegschaften arbeitslos.

Diese unorganisierten und intensiven Arbeitskämpfe der Nachwendezeit sind der blinde Fleck in der gesamtdeutschen Arbeitskampfgeschichte. In Erinnerung blieben vor allem die Niederlagen – und das hat Folgen, wie Katja Barthold bei ihrer täglichen Arbeit feststellt. Barthold ist Verdi-Gewerkschaftssekretärin in Jena und spricht als Expertin für die derzeitigen Streikbewegungen. Sie beschreibt das »Trauma der Niederlage«, das eine ganze Generation von Ostgewerkschafter*innen geprägt hat: »Die Menschen glauben nicht mehr, das etwas veränderbar ist.« Selbst kleine gelungene Aktionen seien daher wichtig.

Aber wie generiert man Erfolgserlebnisse? Auch in den östlichen Bundesländern ändert sich die Stimmung, Verdi bringt auch dort Tausende auf die Straße. Das zieht Kreise. Barthold berichtet von einer Busfahrerin, die auf ihrer Tour eine Demonstration von Krankenhausbeschäftigten kreuzte. Sie war überrascht und begann ihre eigene Resignation zu hinterfragen. Barthold hofft: »In solchen Erfahrungen entsteht Veränderungsbereitschaft.«

Das Fazit: An 1973 wird als Fanal der Selbstermächtigung der westdeutschen Arbeitsmigrant*innen erinnert, die Streiks der 90er gelten als eine Aneinanderreihung von Niederlagen im Prozess der deutschen Vereinigung. Die derzeitige Streikbewegung reicht von Krankenhausbeschäftigten und Lokführer*innen bis zu prekären Amazon-Beschäftigten und Spargelstechern. Gelingt es ihr, Brücken zu schlagen und Gemeinsames herauszuarbeiten, könnte sie das Material für den Aufbau einer Gegenmacht liefern – in einer Gesellschaft, in der die Herrschaft des Kapitals unermesslich scheint.

Für die ehemalige Riderin Zeyneb Karlıdağ ist die Sache gar nicht so kompliziert, für sie liegen die Bezüge zu 1973 klar auf dem Tisch. Sie verweist auf die Demonstrationen »Für ein umfassendes Streikrecht«, mit denen die Kündigungsschutzprozesse gefeuerter Kollegen begleitet wurden. »Wir Riders haben nach 50 Jahren den politischen Diskurs über ›wilde Streiks‹ wieder angestoßen. Die Menschen, die vor 50 Jahren gestreikt haben, haben den Weg für uns bereitet. Deswegen betrachte ich diese Menschen irgendwie als meine Streikgroßeltern.«

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