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»Viele junge Kubaner kennen ihr Land nur in der Krise«
Der kubanische Ökonom Ricardo Torres Pérez sieht auf der Karibikinsel grundlegende Strukturprobleme
Herr Torres, Kuba befindet sich in einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit zwei Jahren gibt es eine nie dagewesene Ausreisewelle. Wie beurteilen Sie die Situation?
Die Auswanderung war nach 1959 eine Konstante. Es gab Höhen und Tiefen, aber Kuba hat seit 1959 einen stetigen Bevölkerungsverlust. Und es gab immer wieder Ausschläge, wie die Balsero-Krise während der großen wirtschaftlichen Misere der 1990er Jahre, als mit Flößen der Weg in die USA gesucht wurde. Heute steckt Kuba wieder in einer schweren Krise, von der viele sagen, es sei die schlimmste seit dem Triumph der Revolution. Aber eine Sache ist dabei neu: Anders als vielleicht in früheren Zeiten sehen die Bürger keine klare Strategie der Regierung, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen. Die derzeitige kubanische Führung ist viel schwächer als frühere. Wenn man die Spezialperiode der 1990er und andere Krisen damit vergleicht, war da immer Fidel Castro. Das ist ein wichtiger Unterschied, der sich auf die Wahrnehmung der Bürger auswirkt, was die Aussichten für einen Ausweg aus der Situation angeht. Ein anderes wichtiges Element: Viele jüngere Kubaner sind während oder nach der Spezialperiode geboren worden. Sie kennen nur ein Land in der Krise. Und ihre Beziehung zu dem, was die kubanische Regierung Revolution oder Sozialismus nennt, ist viel schwächer als bei vorherigen Generationen. Mit anderen Worten: Für diese Schichten gibt es praktisch keine inneren Konflikte, wenn es darum geht, das Land zu verlassen. Diese Kombination aus Krise, Generationsunterschieden und einer viel schwächeren Führung verursacht diese Abwanderung Hunderttausender.
Inwieweit haben die Krise und der Massenexodus Auswirkungen auf Bereiche, die immer ein Stolz der kubanischen Revolution waren, wie das Gesundheits- oder das Bildungswesen?
Ricardo Torres Pérez ist ein kubanischer Ökonom. Derzeit weilt er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der American University in Washington D.C. Mit ihm sprach für »nd« Andreas Knobloch.
Wenn die Grundlagen der materiellen Reproduktion einer Gesellschaft so lange beeinträchtigt sind, wirkt sich das unweigerlich auch auf viele Bereiche der Gesellschaft aus. Die Krise führt dazu, dass die Menschen auswandern, mit der Folge, dass viele Sektoren unterbesetzt sind, die Qualität der Dienstleistungen und die Abdeckung sinken. Die Krise des kubanischen Gesundheits- und Bildungssystems hat nicht erst 2018 oder 2019 begonnen. Sie hat sich beschleunigt und vertieft, aber sie begann viel früher. Heute sehen viele Menschen die einzige Lösung darin, das Land zu verlassen. Das wird den Niedergang von Gesundheitswesen und Bildungssystem weiter beschleunigen. Beide haben heute nicht mehr viel mit dem zu tun, was sie einmal waren.
Es scheint eine Art Teufelskreis: Vor allem junge Leute verlassen das Land; die Geburtenrate sinkt weiter, in einem Land mit einer alternden Bevölkerung. Vor allem mittel- und langfristig wird das Auswirkungen haben, oder?
Ja, natürlich. Eine Wirtschaft hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: Von der Dynamik der Arbeitskräfte und von der Fähigkeit, die Produktivität der Arbeitnehmer zu steigern. Dies sind die beiden wichtigsten Quellen für langfristiges Wachstum in einer Volkswirtschaft. Kuba hat eine alternde Bevölkerung und leidet unter beschleunigter Abwanderung. Vor allem der produktivste Teil der Bevölkerung verlässt das Land. Und was die Produktivität betrifft, so bietet das Wirtschaftssystem keine Anreize für Investitionen mit garantierter langfristiger Rentabilität, weder für inländische noch für ausländische Investoren. Und wenn die Qualität der Bildung so stark abnimmt, wie soll dann langfristig Humankapital geschaffen werden? Auf beiden Seiten wird also das Wachstumspotenzial Kubas, das ohnehin schon sehr gering war, erheblich reduziert. Wir haben eine multidimensionale, strukturelle Krise.
Könnte die kubanische Wirtschaft angesichts der massiven Auswanderung zu einer Überweisungswirtschaft werden, wie das in vielen mittelamerikanischen Ländern der Fall ist?
Bis zu einem gewissen Grad ist sie das bereits – auf einem niedrigen Niveau. Das Problem mit den Überweisungen ist, dass sie auf lange Sicht nicht nachhaltig sind. Die Ausreise von Bürgern garantiert nicht per se einen dauerhaften und wachsenden Zustrom an Geldüberweisungen aus dem Ausland. Heute wandern immer mehr Familien ab. Und wenn die ganze Familie geht, muss man nicht viel oder gar nichts nach Kuba schicken. Und letztendlich werden die Überweisungen niemals die Dynamik ersetzen, die die Leute erzeugen könnten, wenn sie im Lande bleiben und im hiesigen Wirtschaftssystem arbeiten und produzieren.
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