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»How To Have Sex« im Kino: Anleitung zum Unglücklichsein
Das Drama »How To Have Sex« entzaubert das erste Mal als böses Erwachen
Aufstehen, wenn es noch dunkel ist, im Halbschlaf beim Check-in anstehen, um den ersten Flieger in den Sommer zu nehmen: Eigentlich sollte man meinen, solch ein Reiseplan rädert den Reisenden für den Rest des Tages. Nicht so Tara, Skye und Em, drei britische Teenager, die gerade auf Kreta eingetroffen sind. Während ihr Taxi durch die Morgendämmerung rollt und sie zum Badeort Malia bringt, gibt es für die Freundinnen kein Halten. Lautstark necken sie Em, die Verantwortungsvolle in der Clique, dass sie jetzt todmüde seien, nur wegen ihr, die sie so früh aus den Betten gescheucht hat. Aber das alles ist nur liebevolle Show, denn schon kurz darauf bricht unbändige Vorfreude aus Tara, dem Küken, heraus: »Wir sind in Malia!«, kreischt sie. Sekunden später stürmen die drei ins kalte Meer, während am Horizont die Sonne aus den Wellen steigt.
Sie strotzen vor Selbstbewusstsein und bersten vor Erwartungen: Wie eine Naturgewalt halten die drei Mädchen Einzug in ihrem Hotel, immerhin soll es »der beste Urlaub aller Zeiten« werden. Der Coming-of-Age Film »How To Have Sex«, der 2023 auf dem Cannes-Filmfestival mit dem Hauptpreis der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet wurde, erzählt vom Scheitern dieses Plans, doch dazu später. Zunächst überrollen die Freundinnen die Rezeptionistin mit ihrem Charme, sodass sie ein Apartment mit Blick auf den Pool bekommen, stürmen johlend die Zimmer, feiern jeden Handtuchschwan, als wäre es ein echter, und legen die Regeln für die Bettverteilung fest: Wer am häufigsten flachgelegt wird, bekommt das große Bett.
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Was keck gemeint ist, hängt wie ein Damoklesschwert über Tara. Denn sie ist als einzige der drei noch Jungfrau. »Eine krasse Jungfrau«, wird Skye später abfällig über ihre Freundin sagen. Dass das als Stigma zu verstehen ist, leuchtet angesichts der hypersexualisierten Strukturen auf und jenseits der Leinwand noch irgendwie ein, nur was dann eine neutrale Jungfrau sein soll, bleibt offen. Zugeknöpft gibt sich Tara jedenfalls nicht.
Wer bisher einen weiten Bogen um Lloret de Mar oder den Ballermann gemacht hat, kommt in »How To Have Sex« in den Genuss der Partytourismusfreuden. Knappe Kleider, grelle Farben, falsche Wimpern, echter Lebenshunger: Fast bekommt man das Gefühl, etwas verpasst zu haben, so mitreißend inszeniert Regisseurin Molly Manning Walker diese einzigartige Phase im Leben eines jeden Menschen, kurz nach Verlassen der Schulstrukturen, überwältigt von den Freiheiten des aufziehenden Erwachsenendaseins. Also erst mal feiern. Und saufen, kotzen, weitersaufen. Am Pool wird ausgenüchtert.
Am lautesten feiert Tara (Mia McKenna-Bruce): Klein gewachsen, malt sie sich Augenbrauen »wie Nacktschnecken« (ebenfalls ein fragwürdiges Kompliment von Skye), grölt aus voller Kehle, als hätte es das repressive Attribut »ladylike« nie gegeben, und hüpft wie ein Flummi durch die Discotheken. Stark machen sie ihre Freundinnen. In den Szenen, in denen sie bei sich ist, etwa als sie zum ersten Mal am Strand steht, fängt die Kamera alle Hoffnungen, aber auch alle Ängste und Zweifel ein, die sich auf ihrem Gesicht spiegeln. Als die Mädchen nach einer durchzechten Nacht nach Hause torkeln und die großen Themen – die ausstehenden Noten für den Schulabschluss, ihre Zukunft – zur Sprache kommen, senkt Tara kleinlaut ihre Lider, weicht aus und redet unbestimmt davon, »business« machen zu wollen. Ihre Aussichten sind unklar.
Umso leichter lebt es sich im Moment. Und der Moment ist wasserstoffblond, oberkörperfrei und hat den Schriftzug »hot legends« sowie einen überdimensionierten Kussmund auf seinen Hals tätowiert. Als Badger (Shaun Thomas) vom Balkon nebenan herüberpfeift, während Tara ihre Brauen nachzieht, weiß die sonst so dick auftragende Tara gar nicht, was sie mit der willkommenen Aufmerksamkeit anfangen soll. Spätestens hier zeigt sich das immense Talent von Mia McKenna-Bruce, die seit ihrem achten Lebensjahr Bühnenerfahrung sammelt und bereits an der Seite von Milla Jovovich und Dakota Johnson zu sehen war. Mit wenigen Gesten und Blicken offenbart McKenna-Bruce Taras inneren Zwiespalt zwischen Sich-Geben und Sich-Fühlen, der so typisch ist für Heranwachsende, die ihren Platz in der Welt suchen. Zwischen den beiden Polen liegt ein Abgrund; ihn zu meistern, ist ein Drahtseilakt, Teil des Erwachsenwerdens. Und wir stürzen mit ab, wenn Tara daran zu scheitern droht.
Auf dem Balkon widerum springt ihr die schlagfertige Skye (Lara Peake) zur Seite, und während Tara noch nach Worten sucht, sendet ihre Freundin bereits eindeutige Flirtsignale Richtung Badger. Wobei Freundin vermutlich das falsche Wort ist, angesichts der ambivalenten Beziehung der beiden jungen Frauen. Würde einem die Freundin Druck machen, was das erste Mal angeht? Würde sie darauf drängen, dass man den Typen fallen lässt, zu dem man sich eigentlich hingezogen fühlt?
Dass Konkurrenzgehabe nicht nur bei jungen Männern eine Rolle spielt, bebildert »How To Have Sex« auf fast gnadenlose Weise: So packend ist es zu sehen, wie die unsichere Tara sich an der in sexuellen Dingen erfahreneren Skye orientiert, die ihr Badger ausredet und stattdessen dessen Kumpel Paddy (Samuel Bottomley) nahelegt. Zunächst unentschlossen, folgt Tara schließlich der eigennützigen Empfehlung von Skye, als Badger sich bei einem Partyspiel auf offener Bühne oral befriedigen lässt – und sich damit ins Aus schießt. Paddy hingegen gilt gemeinhin als »mad fit«, ein Alpha-Typ quasi, und wer kann es sich schon leisten, den Alpha-Typen abzulehnen.
Die Moral von der Geschichte liegt auf der Hand, natürlich ist Paddy nicht die richtige Wahl für das erste Mal, obwohl er Taras Zustimmung sogar zweimal einholt, bevor es zur Sache geht. Und zwar am Strand, während im Hintergrund die Brandung tost, die Umstände könnten romantischer kaum sein. Bloß ist Taras Zustimmung für Paddy mehr Absicherung als ernsthaftes Anliegen. Und er somit ein Beispiel für jenen Männlichkeitsentwurf, der eher wenig Rücksicht auf das Gegenüber nimmt.
Wenn man unter Sex die intime Begegnung zweier Subjekte versteht, könnte man sogar zu dem Schluss kommen, das gar keiner stattfindet, weil sich der junge Mann an Taras Körper im Grunde selbst befriedigt. Im Englischen gibt es eine abwertende Bezeichnung für Personen in penetrierter Position: »cumdumpster«, was zu Deutsch wohl als Wichshalde übersetzt werden kann und den Sexualpartner zum Behältnis, zum Auffangbecken und somit zum Objekt degradiert. Das Wort fällt in keiner Szene. Aber jedes Hecheln, jeder Beckenstoß Paddys skizziert, dass er dieses Frauenbild verinnerlicht hat.
Dass ein Ja zum Sex idealerweise ein enthusiastisches Ja ist, vermittelt »How To Have Sex« somit ganz ohne Zeigefinger. Es reicht, Tara dabei zuzusehen, wie sie nach dem Akt damit ringt, dass ihre Person bei ihrem ersten Mal gar keine Rolle gespielt hat, weil nur ihr Körper gefragt war. Wie verloren sie anschließend von Tanzfläche zu Tanzfläche treibt, auf der Suche nach Halt und Würde, ist Lektion genug. Dass sie sich danach die Tränen abwischt, einen stolzen Schmollmund aufsetzt und sich schließlich doch noch ihrer Freundin Em anvertraut, ebenso.
»How To Have Sex«, UK 2023. Regie und Buch: Molly Manning Walker. Mit: Mia McKenna-Bruce, Lara Peake, Enva Lewis, Shaun Thomas, Samuel Bottomley. 98 Min. Kinostart: 7. Dezember.
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