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Verfassungsreferendum: Chile steht vor einer schlechten Wahl
Beim Verfassungsplebiszit am Sonntag wird über einen reaktionären Entwurf abgestimmt, der die Diktaturverfassung ersetzen soll
Francisca Contreras ist seit gut zwei Wochen fast jeden Tag auf der Straße. Die 26-jährige Sekretärin der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei in der Hauptstadtgemeinde Independencia verteilt Flyer, um die Menschen davon zu überzeugen, gegen die neue Verfassung zu stimmen. Aus ihrer Sicht steht viel auf dem Spiel: »Wir als Frauen werden Rechte verlieren, die Gemeinden werden weniger Gelder zur Verfügung haben, für Chile bedeutet die neue Verfassung nichts Gutes«, ist Contreras überzeugt.
Der Verfassungsentwurf über den am Sonntag, den 17. Dezember, abgestimmt wird, ist der zweite innerhalb von eineinhalb Jahren, der den Wähler*innen vorgesetzt wird. Der erste Entwurf galt als feministisch, ökologisch, sozialstaatlich und mit tiefgreifenden neuen demokratischen Rechten. Die progressive Verfassung sollte die Antwort auf die soziale Revolte von 2019 sein, bei denen Millionen von Menschen gegen die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftsregimes auf die Straße gingen. Auch Contreras war damals mit auf der Straße.
Der erste Verfassungsentwurf war gleichzeitig die Richtschnur für das Regierungsprogramm der amtierenden progressiven Regierung unter Gabriel Boric, der auch die Kommunistische Partei angehört und die dort drei Ministerien stellt. Auf Basis des damaligen Entwurfs versprach die Regierung, ein neues solidarisches Rentensystem, ein universelles Gesundheitssystem und kostenlose öffentliche Bildung bis zur Universität einführen zu wollen. Am 4. September 2022 lehnten jedoch 62 Prozent der Wähler*innen den Entwurf ab. Damit verloren nicht nur viele ehemalige Protestierende die Hoffnung auf Wandel, sondern auch die Regierung wurden in ihrem Reformwillen abrupt gestoppt. »Es ist schwer nach all den Jahren, jetzt dafür zu kämpfen, die Verfassung von Pinochet beizubehalten«, sagt Contreras ernüchtert. Es ist wenig wahrscheinlich, dass innerhalb der jetzigen Regierungsperiode tiefgreifende Reformen umgesetzt werden könnten. Mit dem Nein zum ersten Verfassungsentwurf bleibt Chile vorerst bei der Verfassung, die 1980 von der damaligen Militärdiktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet ins Leben gerufen wurde.
In einem zweiten Anlauf sollte ein neuer verfassungsgebender Prozess doch noch zu einer Verfassung führen, die unter demokratischen Verhältnissen ausgearbeitet wurde, so die Hoffnung innerhalb des progressiven Lagers. Doch in den Wahlen zum Verfassungsrat im Mai 2023 erlangten die rechten und rechtsextremen Sektoren, die teilweise bis heute die Militärdiktatur verherrlichen, eine Zweidrittelmehrheit. Allein die rechtsextreme Partido Republicano vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast erlangte 22 von 50 Sitzen. So hat nun ausgerechnet ein rechtsdominierter Verfassungsrat einen zweiten Entwurf geschrieben. Ein historischer Rückschritt für viele Menschen.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Contreras meint, »dieser zweite Prozess war von Anfang undemokratisch«. Grund dafür sei gewesen, dass der Verfassungsrat keine Geschlechterparität hatte, Indigenen nur wenig Raum gab und auf Basis eines ersten Entwurf seine Arbeit aufnahm, der zuvor von sogenannten »Expert*innen« geschrieben wurde, die von beiden Parlamentskammern zuvor ernannt wurden.
Linke Positionen waren von Beginn an marginalisiert, erklärt die ehemalige Verfassungsabgeordnete Nancy Márquez. Sie saß für die Partei Convergencia Social, der auch der amtierende Präsident Boric angehört, im Verfassungsrat. »Wir hatten vor allem eine beratende Funktion«, meint Márquez enttäuscht. Die Anthropologin und dreifache Mutter war sehr daran interessiert, ihre Meinung von Erziehung und Kinderrechten in die Verfassung einzubringen und scheiterte beim Versuch.
»Ich bin der Meinung, Kinder und Jugendliche sollten progressiv mehr Rechte und Autonomie erhalten«, erklärt Márquez. Diese Meinung steht allerdings im Gegensatz zum Erziehungsbild der Rechten, die Kinder vor allem als Eigentum der Familie betrachten. »Wir haben probiert, einen Kompromiss zu erzielen, doch dies war nicht möglich.« So sagt der Verfassungsentwurf nun, dass die Familie für das Wohlergehen des Kindes verantwortlich ist. Den Minderjährigen wird weder Autonomie zugestanden, noch bekommt der Staat das Recht für das Wohlergehen des Kindes zu sorgen. Er hat lediglich eine »fördernde« Funktion.
Die Logik der privaten Verantwortung setzt sich auch bei Bildung fort. Der Familie wird dabei das Recht zugestanden für die Bildung des Kindes zu sorgen und diese zu bestimmen. Der Staat verliert die Möglichkeit, die Bildungspläne für private Schulen zu bestimmen, selbst wenn er diese finanziert. Der Verfassungsentwurf sieht insbesondere das Recht, eigene Schulen oder Bildungseinrichtungen zu gründen und schützt diese vor staatlicher Intervention. Kürzlich erlangte und immer noch von rechter Seite umstrittene Bildungsinhalte, wie die Aufarbeitung der Militärdiktatur oder Sexualkunde, stehen damit als Teil des allgemeinen Bildungsplans auf Kippe.
Die ehemalige Präsidentin des Verfassungsrates und Parteikollegin des rechtsextremen José Antonio Kast, Beatriz Heiva, bezieht sich in öffentlichen Aussagen kaum auf die Rolle der Familie. Vielmehr beschreibt sie in Interviews und Beiträgen in sozialen Medien, wie der Verfassungsentwurf gegen Kriminalität vorgehen würde. Eine neue landesweite Staatsanwaltschaft soll organisierte Kriminalität bekämpfen und Ausländer*innen, die Straftaten begehen, sollen prinzipiell abgeschoben werden. Eine neue Grenzpolizei soll diese Aufgeben übernehmen. Interviewanfragen wurden von Heiva nicht beantwortet. In einem Wahlwerbespot zeigt die ultrarechte Partido Republicano derweil einen Kopf, der vom Rest der Körpers getrennt und in eine Mülltonne geworfen wurde. »Chile erlebt einen Terrorfilm«, heißt es im Video, »stimme für mehr Sicherheit, stimme für Chile, stimme für die neue Verfassung«.
An einer Metrostation in Santiago steht derweil eine Anhängerin der neuen Verfassung, sie möchte ihren Namen nicht nennen. »Ich kämpfe für die neue Verfassung, obwohl wir dadurch die vom General Pinochet verlieren«, meint sie stolz. Die Abstimmung sei wichtig, um »der kommunistischen Regierung Einhalt zu gebieten. Damit sie nicht ihre Agenda durchsetzen kann«, erklärt sie ihre Haltung.
»Der aktuelle Verfassungsentwurf ist hochideologisch aufgeladen«, meint der Politologe Javier Couso, während er in einem Café im wohlhabenden Osten von Santiago sitzt. Während der erste Entwurf stark nach links zeigte und wenig Kompromiss mit den rechten Sektoren suchte, sei der aktuelle das genaue Gegenteil.
Couso steht der Chrisdemokratischen Partei nahe und sprach sich für den ersten Verfassungsentwurf aus, den aktuellen hingegen lehnt er ab. Sie verfestige die neoliberale Struktur des Landes und sei gleichzeitig Ausdruck einer erzkonservativen Ideologie, die im schlimmsten Falle den Rechtsstaat beeinträchtigen könnte. Dabei sei es möglich, dass sich die Ultrarechten verzockt haben, meint Couso: »Für Sektoren, die immer für eine neue Verfassung gekämpft haben, schien es zuerst schwierig, nun gegen sie zu sein.« Doch genau dieser Fall ist eingetroffen. Während rechtsmoderate Sektoren einen Kompromiss gesucht hätten, der eine neoliberale Verfassung mit etwas mehr sozialen Rechten demokratisch legitimiert hätte, sind die Republicanos ans Maximum gegangen. »Dies hat zu Ärger innerhalb des rechten Lagers geführt«, so Couso. Dabei sei der Verfassungsentwurf inhaltlich und technisch widersprüchlich. Zwar spreche die Einleitung noch von einem Sozialstaat, doch gleichzeitig werde das Solidaritätsprinzip im Renten- oder Gesundheitssystem abgeschafft. Die Verfassung schlägt eine neue Grenzpolizei vor, gibt ihr aber nicht das Recht, Waffen zu tragen. Außerdem kommt ein Artikel zweimal vor. All diese zeige eine unsorgfältige Arbeit an einem Verfassungstext, der schon jetzt Reformen benötigte und womöglich zu einer langen Periode des Rechtsstreites führen könnte.
Eine Annahme der neuen Verfassung würde das Ende des bisherigen politischen Weges in Chile sein, ist sich Couso sicher. Seit dem Ende der Militärdiktatur führten die Regierungen in sehr kleinen Schritten Reformen durch, die den Sozialstaat erweiterten, mehr demokratische Rechte zusprachen und eine gesellschaftliche Öffnung förderten. Dazu gehörte unter anderem das Recht auf Abtreibung im Falle einer Totgeburt, Lebensgefahr der Mutter und Vergewaltigung, das durch die neue Verfassung wieder abgeschafft werden könnte. Selbst der rechte Präsident Sebastián Piñera etwa führte im Jahr 2021 die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Dieser Weg des langsamen Progressivismus könnte mit einer ultrakonservativen Verfassung beendet werden.
Umfragen sagen derweil einen Sieg des Gegner*innenlagers voraus. Couso wiegelt ab, »aufgrund der obligatorischen Wahlteilnahme weiß niemand, wie sich jene verhalten werden, die eigentlich keine klare politische Meinung haben.« Er vertraue keiner Umfrage.
Doch wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass vier Jahre nach der sozialen Revolte und dem verkündeten »Ende des Neoliberalismus« eine Partei im Verfassungsrat eine Mehrheit erlangte, die sich positiv auf das Erbe der Militärdiktatur beruft? Couso sieht die Antwort in der Angst vor der Kriminalität. »Chile war einst das Land mit der geringsten Mordrate auf dem gesamten amerikanischen Kontinent.« Innerhalb weniger Jahre habe sich die Zahl verdoppelt. In den Medien sind Autodiebstähle, Morde und Schießereien verfeindeter Drogenbanden allgegenwärtig.
»Die Menschen haben Angst«, meint Couso, dies führe dazu, dass die Menschen ihre sozialen Rechte im Gegenzug zum Versprechen von Sicherheit aufgeben würden, sagt der Politikwissenschaftler mit einem Verweis auf den liberalen Staatstheoretiker Thomas Hobbes.
Tatsächlich zeigt das rechtsausgerichtete Umfrageinstitut Cadem beispielhaft, wie sich die Prioritäten der Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert haben. Während kurz nach der Revolte von Oktober 2019 kostenloser Zugang zu Bildung, ein neues Rentensystem und eine bessere öffentliche Gesundheitsversorgung an erster Stelle der Prioritätenliste der Gesellschaft standen, ist es nun die Bekämpfung der Kriminalität. Am 10. Dezember veröffentlichte Cadem eine Umfrage, bei der 60 Prozent der Menschen angaben, Kriminalität, öffentliche Ordnung und Drogenhandel sollten von der Regierung im Jahr 2024 an erster Stelle in der politischen Agenda stehen.
Die Kommunistin Francisca Contreras stimmt dieser Analyse zu, »wir als Linke haben uns zu lange nicht um die Themen der Sicherheit gekümmert«. Die rechten Parteien hätten dies ausgenutzt und verwendeten die Bekämpfung von Straßenkriminalität als eigenes Markenzeichen. Doch Contreras hat auch Angst vor dem, was passieren würde, wenn am Sonntag eine Mehrheit für die neue Verfassung stimmen würde: »Damit würde der Weg für die Präsidentschaft eines rechtsextremen Kandidaten in zwei Jahren geebnet«, ist sie überzeugt. Bei ihr überwiegt allerdings die Hoffnung: »Die meisten Menschen, mit denen wir geredet haben waren gegen die neue Verfassung«, erzählt sie. Nur ein kleiner Teil der Menschen habe sich für die neue Verfassung ausgesprochen und diese Menschen hatten stramm rechte Überzeugungen.
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