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Wohlstandsmaß Bruttoinlandsprodukt: Vermessen und alternativlos
Das Bruttoinlandsprodukt ist umstritten, gilt in Politik und Wirtschaft aber immer noch als wichtigster Indikator für gesellschaftlichen Wohlstand
Stellen wir uns das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als schmierigen Capo vor, als Kopf einer mafiösen Verbindung, der in Misskredit gebracht wurde und sich nicht mehr auf der Straße blicken lassen kann. Und dennoch, vom schäbigen und verrauchten Hinterzimmer aus bestimmt das BIP weiterhin die Geschicke der Wirtschaft. Mit dieser Metapher brachte Oliver Schlaudt, Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Koblenzer Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, in dem 2018 erschienenen Buch »Die politischen Zahlen« seine Verwunderung über die ungebrochene Wirkmächtigkeit des BIP als Wohlfahrtsmaß zum Ausdruck.
Tatsächlich: Während die Kritik am BIP weitverbreitet und fester Bestandteil von Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre (VWL) ist, gelten das BIP und dessen Wachstum weiterhin ungebrochen als Bezugsgrößen in Politik, Ökonomik und Öffentlichkeit. Das war auch wieder im November 2023 zu erleben, als die »Wirtschaftsweisen« ihr Jahresgutachten »Wachstumsschwäche überwinden – In die Zukunft investieren« vorstellten.
Der Videojournalist Tilo Jung fragte auf der Bundespressekonferenz, wie sich die Ausrichtung und Forderung nach mehr Wachstum mit den Klimazielen vertrage. Schließlich führe Wirtschaftswachstum – global gesehen – zu mehr (CO2-)Emissionen.
Die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier zeigte sich erfreut über diese Frage: Sie finde es sehr gut, das Wachstumsziel zu hinterfragen und darüber aufzuklären, dass es in der Ökonomik nicht um die Maximierung des Bruttoinlandsproduktes gehe, sondern um die Maximierung des Wohlstands. Sie räumte ein, dass zum Wohlstand mehr gehöre, als in die Berechnung des BIP einfließt, zum Beispiel die Gesundheit. Es werde auch daran gearbeitet, diese Wohlstandsaspekte besser zu erfassen. Aber es sei extrem schwer, geeignete Maßzahlen zu finden, die diese Aspekte abbilden. Weil diese bislang nicht existierten oder sich nicht gut nutzen ließen, würden Ökonom*innen am Ende wieder auf das BIP zurückgreifen.
Alternative Wohlfahrtsmaße
Das ist nicht ganz falsch. Aber wirklich angemessen scheint diese Antwort auch nicht. Problematisch sind diese Aussagen schon deshalb, weil damit der Eindruck vermittelt wird, die Arbeit an alternativen Maßzahlen für Wohlstand stehe noch am Anfang. Dagegen hat die Kritik am BIP längst zu anderen Indexen geführt.
Wer als interessierter Fachmensch für VWL nach Wohlfahrtsmaßen sucht, wird von deren Vielzahl geradezu erschlagen. Kursorisch zu nennen wären zum Beispiel: The Europe 2020 Scoreboard, The Better Life Index, der Human Development Index, der Genuine Progress Indicator und der Happy Planet Index. Dazu muss der Blick auch nicht auf die Forschung prominenter Ökonom*innen aus dem Ausland gerichtet werden. Am interdisziplinären Institut Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg werden ein Nationaler Wohlfahrtsindex sowie Regionale Wohlfahrtsindexe entwickelt, die Arbeiterkammer Österreichs gibt seit mehreren Jahren Wohlstandsberichte heraus, und der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 2022 enthält ein Sonderkapitel dazu, Wohlstand messbar zu machen.
Natürlich sind auch alternative Wohlfahrtsmaße nicht frei von Kritik. Zum Beispiel weisen die heterodoxen Ökonomen Heinz-Josef Bontrup und Ralf-Michael Marquardt in ihrem VWL-Lehrbuch von 2021 kritisch darauf hin, dass der Human Development Index mit Blick auf wirtschaftlich höher entwickelte Länder empirisch keinen besseren Erklärungsansatz für die Lebensqualität bietet als das BIP pro Kopf. Auch bei den alternativen Wohlfahrtsmaßen ist also nicht alles Gold, was glänzt.
Was ist überhaupt Wohlstand?
Doch es ist mindestens irritierend, wenn Wirtschaftsweise – als ganz besonders exponierte Vertreter*innen ihres Fachs – heute so nonchalant und ungenau mit dem Thema »Wohlstand« und alternativen Wohlfahrtsmaßen umgehen, wie es bei der oben erwähnten Bundespressekonferenz geschah. Als korrekte und angemessene Antwort wäre dort zu erwarten gewesen, darauf hinzuweisen, dass zwar zahlreiche Alternativen zum BIP als Wohlfahrtsmaß existieren und diese auch weiterentwickelt werden, sie sich jedoch in »der Wissenschaft« bislang noch nicht durchgesetzt haben.
Gleichwohl ist zur Ehrenrettung von Malmendier einzuräumen, dass sie ganz auf Linie des Umgangs mit Wohlstand lag, wie er in etablierten VWL-Lehrbüchern gepflegt wird. Dort ist die Kritik am BIP zwar als fester Bestandteil etabliert, teils werden auch Alternativen erwähnt. Aber entweder hat die Kritik am BIP als Wohlfahrtsmaß gar keine Auswirkungen und in den Lehrbuch-Darstellungen wird dieses einfach weiter als Wohlfahrtsmaß verwendet. Oder die Verwendung des BIP wird damit gerechtfertigt, dass es zwar nicht den Wohlstand, wohl aber die Voraussetzungen für Wohlstand abbilde, um dann ebenfalls wie gewohnt weiter mit dem BIP und dem Wohlstandsbegriff zu arbeiten.
Vereinzelt führt die Kritik am BIP zu dem Bekenntnis, ihm einen begrenzten Aussagegehalt zuzuschreiben. Aber unter Berücksichtigung dessen wird das BIP weiter genutzt. Es ist dann wenig verwunderlich, wenn sich etwa im bekannten Lehrbuch von Arthur Woll von 2014 nachlesen lässt, dass das Bruttoinlandsprodukt »immer noch der beste Wohlfahrtsindikator« sei, »wenn man den begrenzten Aussagewert vor allem bei internationalen Vergleichen beachtet«. Trotz Kritik kann das BIP auf diese Weise vom Hinterzimmer aus weiter die nationalökonomischen Geschicke lenken.
Tatsächlich wäre zum »Wohlstand« noch mehr und vor allem noch viel mehr Grundsätzliches zu sagen. Zum Beispiel lässt sich zeigen, dass die viel genutzten Begriffe »Wohlstand« oder »Wohlfahrt« in VWL-Lehrbüchern selten – fast gar nicht – definiert werden. Zudem erweist sich das Verständnis von Wohlstand in der VWL als diffus. Einerseits wird Wohlstand als Wohlfahrt mit dem BIP assoziiert, andererseits konzentriert sich Wohlstand beim Wohlfahrtsstaat auf die Sicherstellung eines Existenzminimums. Das sind jedoch zwei verschiedene Dinge, die in den Lehrbüchern, aber auch in der Praxis nicht wirklich angemessen ausbuchstabiert und geklärt werden.
Zudem existiert ein Verständnis von Wohlstand als abstrakte, quantitative und materialistische Makrogröße, wofür oft das BIP herhält. Dem gegenüber steht ein anderes abstraktes Verständnis, das sich in Wohlfahrts- und Nutzenfunktionen oder in grafisch dargestellten Wohlfahrtsverlusten in Angebot-und-Nachfrage-Diagrammen niederschlägt. Hinzu kommt ein modernes quantitatives Verständnis, das Wohlstand nicht mehr alleine auf das BIP reduziert, sondern auch andere Aspekte des Wohlstands quantifiziert (etwa Umweltverschmutzung, Bildungsstand) und berücksichtigt. In der Summe scheinen also mehrere Verständnisse von Wohlstand nebeneinander zu existieren.
Kaum thematisiert werden die Narrative, in die Wohlstand eingebettet ist. Zum Beispiel das Narrativ von der Effizienz marktwirtschaftlicher Systeme, der Mythos der unsichtbaren Hand oder Wachstumsnarrative. Dabei erweist sich vor allem die gedankliche Verbindung von Wohlstand und Wirtschaftswachstum als auffällig. Sie scheint eine lange Tradition in der Entwicklung des ökonomischen Denkens zu haben. Besonders identitätsstiftend für die Bundesrepublik tritt sie im wirtschaftsliberalen Wohlstandsmodell von Ludwig Erhard auf (»Wohlstand für alle«).
Viele offene Fragen
Das alles sind offene Fragen und Schwierigkeiten, deren Bearbeitung in der heutigen VWL aus verschiedenen Gründen bislang vernachlässigt wurde. Sie bieten Erklärungsansätze für die Probleme vieler Ökonom*innen, wenn sie – wie in der Bundespressekonferenz – mit der Wohlstandsthematik konfrontiert sind. Auch dort passt das Bild von Oliver Schlaudt: Auf das BIP als Capo im Hinterzimmer angesprochen, geraten sie ins Trudeln und ihre Antworten werden diffus. Dabei liegen die Alternativen schon lange auf dem Tisch.
Sebastian Thieme ist wissenschaftlicher Referent für Ökonomie an der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien und forscht dort derzeit zum Thema »Wohlstand«.
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