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Detlef Hensche: Die Leute mit Argumenten verführen
Er gehörte zu den bekanntesten linken Gewerkschaftern in der Bundesrepublik
»Politische Entscheidungen sind stets das Ergebnis vielfältiger Einflussnahme und Spiegelbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse; wirtschaftliche Macht triumphiert dabei in aller Regel« schreibt Detlef Hensche im Februar 2019 in der Zeitschrift »Luxemburg« und fragt: »Was etwa ist die vorübergehende Arbeitsniederlegung gegen die täglich zu vernehmende Ankündigung von Entlassungen, Investitionszurückhaltung und Standortverlagerung, um unliebsame Entscheidungen zu verhindern?« Wer nicht möchte, dass die wirtschaftliche Macht andauernd triumphiert, »sollte es begrüßen, wenn die wirtschaftlich Unterlegenen, die Mehrheit also, von Zeit zu Zeit aufbegehren und sich durch Arbeitsniederlegungen Respekt verschaffen«, beantwortet der einstige Vorsitzende der IG Medien die Frage.
Der genannte Artikel trägt die schlichte Überschrift »Frauenstreik« und weist ihn in der Unterzeile als »Eine juristische Handreichung für Aktivist*innen« aus. Frauen, die am 8. März streiken wollten, schallte das Schreckwort des »politischen Streiks« entgegen, den es nach herrschender Juristen- und Politikermeinung nicht geben darf. »Die Arbeitgeber müssen’s dulden«, meint dagegen Hensche und begründet mit einfachen Worten, warum das so ist.
Einfache Worte und ein Streik waren es auch, die Detlef Hensche vor 47 Jahren bekannt gemacht haben. Auf der 1.-Mai-Kundgebung 1976 in Frankfurt am Main sprach Bundesminister Hans Matthöfer (SPD) und bekam allerlei Essbares zugeworfen. Nach ihm wurde »Detlef Hensche vom Hauptvorstand der IG Druck und Papier, die sich im Streik befindet«, angekündigt. Setzer, Drucker und Hilfsarbeiter streikten für neun Prozent mehr Lohn und damit gegen die von Kanzler Helmut Schmidt verordnete Lohnleitlinie von fünf Prozent. Die Arbeitgeber reagierten mit der ersten bundesweiten Aussperrung und trieben 68 800 Kolleginnen und Kollegen »wie Hunde vor die Tür«, so Hensche in seiner Rede, die es auch sonst in sich hatte. Indem er von »kapitalistischer Ausbeutung« und »sogenannter Marktwirtschaft« sowie »einer Mitbestimmung, die den Namen verdient«, sprach, brachte der bislang Unbekannte linke wie gemäßigte Gewerkschafter, DKP-ler, Spontis und Linksradikale aller K-Gruppen zum Jubeln und mit einem Satz zum Toben: »Wenn die Kapitalisten den Machtkampf wollen, müssen die Gewerkschaften zurückschlagen.«
Es kam zur Schlichtung, Streik und Aussperrung wurden ausgesetzt, Zeitungen erschienen wieder. »Der radikale Doktor« titelte die »Zeit« über Hensche und bescheinigte ihm »sympathische Gelassenheit«. »In Hirn und Herz bewegen ihn eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung«, hieß es weiter. Fortan arbeiteten sich Medien immer wieder an Hensche ab, allen voran die »FAZ«, die 1994 während eines weiteren Streiks schrieb: »Er donnert nicht mit Worten, sondern verführt mit Argumenten. Ein Intellektueller aus gutem Hause.«
Hauptamtlicher Gewerkschafter zu werden, war Detlef Hensche wegen seiner Herkunft nicht vorgegeben. Er wurde am 13. September 1938 in Wuppertal geboren; seine Mutter stammte aus einer Industriellenfamilie, sein Vater war selbstständiger Kaufmann. Die Mutter engagierte sich in der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung, was den Sohn politisch prägte. Das bürgerliche Elternhaus begünstigte eine gradlinige Ausbildung; er besuchte ein altsprachliches Gymnasium, machte 1957 das Abitur und studierte in Bonn Kunstgeschichte, Philosophie und Jura. Schließlich konzentrierte er sich auf das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, das er 1966 mit dem zweiten Staatsexamen abschloss.
Es folgten Anstellungen als wissenschaftlicher Assistent an der Uni Bonn und im Bundesforschungsministerium. Im Sommer 1969 bekam er eine Stelle beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Die hierarchischen Strukturen waren mit dem demokratischen Selbstverständnis der jungen Wissenschaftler nicht vereinbar. Hensche wurde in den Betriebsrat und zum Vorsitzenden gewählt und handelte mit dem DGB-Chef Heinz-Oskar Vetter erfolgreich ein Reformpaket aus.
Man könne sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, mit welcher Sicherheit und Unbekümmertheit die »gesegnete Generation, zu der ich gehöre«, von der Ausbildung in den Beruf wechseln und sich Beschäftigungsfelder auswählen konnte, sagte Hensche später. Dass er 1971 zum Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik beim DGB berufen wurde, schrieb er der Toleranz Vetters zu.
Für ihn ungeplant und überraschend, wurde Hensche im September 1975 in den Geschäftsführenden Hauptvorstand der IG Druck und Papier gewählt; bis zur Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden 1983 war er für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, dann für Tarifpolitik. Mit einem Streik 1994 den Einstieg in die 35-Stunden-Woche erreicht zu haben, bezeichnete Hensche als den größten Erfolg seiner Amtszeit. Neben dem tarifpolitischen Alltagsgeschäft trieb er die Vereinigung mit der Gewerkschaft Kunst zur IG Medien voran, die im April 1989 in Hamburg ihren Gründungskongress abhielt. Ab 1992 war Hensche Vorsitzender der IG Medien und blieb es, bis sie 2001 in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) aufging.
Verdi war für Hensche aus vielerlei Gründen eine politische Notwendigkeit, eine andere Vereinigung sah er kritischer – den Beitritt der DDR zur BRD bezeichnete er als »feindliche Übernahme«. Im Mai 1994 gründete der Wirtschaftsmanager Jens Odewald den Verein »Wir für Deutschland« und sprach auch Gewerkschaftsfunktionäre an, beizutreten. Der IG-Chemie-Chef Hermann Rappe trat bei, Hensche lehnte dankend ab: »Der Kurs der Privatisierung mit dem Ergebnis eines Ausverkaufs und der Vernichtung von industriellen Standorten haben ganz wesentlich zur schmerzlichen Disparität zwischen den neuen und alten Bundesländern beigetragen.« Weiter führte er aus, einem Verein beizutreten, der durch PR-Arbeit das Unheil zu mildern sucht, halte er für wenig glaubwürdig. Odewald war Vorsitzender des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt. Als Altkanzler Helmut Kohl wegen der Spendenaffäre in Bedrängnis kam, spendete Odewald 650 000 D-Mark. Sein Verein wurde von Neonazis geentert und löste sich 2015 auf. Hensche formulierte salopp: »Ohne zu wissen, dass er einer ist, bin ich dem Scharlatan nicht auf den Leim gegangen.«
Statt die wohlverdiente Rente zu genießen, trat der Jurist in die Anwaltskanzlei eines Freundes ein und widmete sich den »inflationär zunehmenden Fällen«, in denen tarifgebundene Firmen Tarifverträge unterliefen. Der Agenda 2010 wegen trat Hensche im Sommer 2003 nach 40-jähriger Mitgliedschaft aus der SPD aus und schloss sich der WASG und nach deren Vereinigung mit der PDS der Linkspartei an. Dort traf er einen Genossen, dem er 1988 via Mai-Ausgabe der »Konkret« zurief: »Nun machen uns ausgerechnet noch auf dem angestammten Gebiet der Arbeitszeitverkürzung und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Gaukeleien eines Oskar Lafontaine zu schaffen.« Die Vorschläge des Saarländers zur Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und Neubewertung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit empfanden Gewerkschafter*innen als Zumutung.
Nach seinem 70. Geburtstag wollte Hensche mit seiner Lebensgefährtin einen alten Plan in die Tat umsetzen und je ein halbes Jahr in Berlin und Südtirol verbringen. Ihr Schlaganfall verhinderte das Vorhaben, er stellte sich hintenan und umsorgte die Partnerin, solange es ihm möglich war.
Die Handreichung zum Frauenstreik war Hensches letzter Artikel. Im Laufe seines Lebens verfasste er wohl mehr als 1000 Beiträge, so auch als Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Sein dortiger letzter Artikel, veröffentlicht im August 2018, ist mit »Streikverbot: Beamtenrechtlicher Heimatschutz« überschrieben. Wenn beamtete Lehrer streiken, verletzen sie ein Tabu, das wie kaum ein anderes Dogma mit aller Leidenschaft verteidigt wird, prangert Hensche an und schlussfolgert, ein »Schuss arbeitsrechtlicher Modernität« täte dem Beamtenrecht gut. Blätter-Redakteur Albrecht von Lucke erinnert sich an die wichtige Rolle Detlef Hensches: »Er hatte die Gabe, komplizierte Zusammenhänge prägnant auf den Punkt zu bringen, und war zugleich in den Debatten stets ein ausgleichender Faktor.«
Diese Gabe nutzte er, um »denen da unten« zu helfen, den aufrechten Gang zu praktizieren, damit sie sich durch punktuelle Gehorsamsverweigerung ihrer Haut wehren und auf Augenhöhe mit der anderen Seite verhandeln können. Detlef Hensche fand, das sei eine wichtige und reizvolle Aufgabe, die er nie bereut habe, anzunehmen: »Ich würde es immer wieder tun.«
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