Argentinien: Milei präsentiert sein »Schockprogramm«

Argentiniens ultrarechter Präsident bringt seine Liberalisierungsagenda auf den Weg und erntet Proteste

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 4 Min.

»La Patria no se vende« – Das Heimatland steht nicht zum Verkauf –, skandierte eine kleine Menge von Protestlern am späten Mittwochabend auf den Straßen von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires. Zuvor hatte der liberal-libertäre Präsident Javier Milei über 350 Deregulierungsmaßnahmen erlassen. »Ziel ist es, den Weg des Wiederaufbaus unseres Landes zu beginnen, dem Einzelnen Freiheit und Autonomie zurückzugeben und mit dem Abbau der enormen Menge an Vorschriften zu beginnen, die das Wirtschaftswachstum behindert, erschwert und gestoppt haben«, sagte Milei in einer landesweit im Fernsehen übertragenen Rede.

Unter anderem wird das Arbeitsrecht geändert, um die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Privatwirtschaft zu erleichtern. Staatliche Unternehmen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt und anschließend privatisiert. Der Erwerb von Land wird für ausländische Investoren erleichtert. Fußballvereine sollen die Möglichkeit erhalten, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln, wenn sie dies wünschen.

»Das ist ein Schockprogramm, um die schlimmste Krise abzuwenden«, sagte Milei. Schwerpunkt ist das Haushaltsdefizit, das in Angriff genommen werden muss. »Das Problem ist nicht der Koch, sondern das Rezept«, so Milei. »Ideen, die in Argentinien gescheitert sind, sind überall auf der Welt gescheitert.« Die bisherige Politik habe 50 Prozent der Bevölkerung in die Armut geführt, und sechs von zehn Kindern seien arm.

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Nach der Rede war es nicht nur in der Hauptstadt Buenos Aires zu Cacerolazos, Kochtopf- und Hupkonzerten sowie spontanen Straßenprotesten, gegen die Ankündigungen gekommen. Zwar muss das 86-seitige Dekret mit seinen 366 Artikeln dem Kongress vorgelegt werden, doch solange der nicht darüber entscheidet, hat es »unter der Vermutung der Gültigkeit« Gesetzeskraft.

Die Verkündung des Dekrets, das ursprünglich für den Mittag geplant war, wurde wegen eines Protestmarsches zur Plaza de Mayo auf den Abend verschoben. Linke Basisorganisationen und Parteien hatten zu dem ersten großen Protestmarsch gegen den seit dem 10. Dezember amtierenden Präsidenten Javier Milei aufgerufen.

Der 20. Dezember wurde nicht zufällig gewählt. Der Tag gilt als Höhepunkt der sozialen Unruhen im Dezember 2001, als der damalige Präsident Fernando de la Rúa den Ausnahmezustand verhängte. Das verstärkte die Proteste, bei denen 39 Menschen ihr Leben verloren und die schließlich zum Rücktritt des Präsidenten führten, der den Präsidentenpalast fluchtartig mit einem Hubschrauber verlassen musste. Seitdem findet jährlich ein Gedenkmarsch vom Kongress zur Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast statt.

Die Stimmung war extrem aufgeheizt, seit Sicherheitsministerin Patricia Bullrich vergangene Woche das neue Sicherheitsprotokoll für Demonstrationen vorgestellt hatte. Bei der Präsentation ging es weniger um die Gewährleistung der Meinungsfreiheit als vielmehr um die Sicherstellung der Bewegungsfreiheit und die Verhinderung von Straßenblockaden. »Die Straße wird nicht blockiert, die Leute werden auf dem Bürgersteig gehen«, sagte Bullrich und drohte mit harten Konsequenzen für den Fall der Nichteinhaltung.

Sandra Pettovello, die für die Sozialpolitik zuständige Ministerin, setzte am Montag bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt noch einen drauf: »Wer zu einer Demonstration geht und die Straße blockiert, dem wird die Sozialhilfe gestrichen«, lautete die klare Botschaft der Vorsteherin des neu geschaffenen Ministeriums für Humankapital. Pettovello wiederholte damit einen Satz, den Präsident Javier Milei bereits in seiner Antrittsrede gesagt hatte: »El que corta no cobra« – diejenigen, die die Straßen blockieren, werden nicht unterstützt. Milei hatte damit eine Kehrtwende im Umgang mit den Piquetes, den Straßenblockaden, angekündigt, die seit Jahren eine umstrittene, aber geduldete Form des Protests vor allem von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind.

Schon am frühen Dienstagmorgen wurden die Zufahrtswege ins Stadtzentrum kontrolliert. An allen Einfallstraßen und Bahnhöfen überwachten Uniformierte, wer in Richtung der Sammelpunkte für den Sternmarsch unterwegs war. Über die Anzeigetafeln auf den Bahnsteigen und in den Bahnhofshallen lief pausenlos der Satz: »Wer die Straße blockiert, wird nicht unterstützt.« Und wer das nicht gelesen hatte, hörte es als wiederkehrende Lautsprecherdurchsage oder bekam diese Nachricht über die sozialen Netzwerke von der Regierung auf sein Mobiltelefon.

Tatsächlich waren es weit weniger Teilnehmende als erwartet. Als am Nachmittag schließlich rund 15 000 Demonstranten in Begleitung eines massiven Polizeiaufgebots zur Plaza de Mayo marschierten, saß Präsident Javier Milei selbst vor den Bildschirmen im Lagezentrum der Polizei und beobachtete den Marsch. Abgesehen von kleineren Rangeleien verliefen An- und Abmarsch friedlich. Am Ende erklärten sich beide Seite zu Siegern. Man habe sich nicht einschüchtern lassen, so der Tenor der sozialen Organisationen. Der freie Verkehr wurde gewährleistet, so die Regierung.

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