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Noch einmal an die Ostsee
Der Wünschewagen erfüllt schwerkranken Berlinern einen letzten Wunsch
Wenn gewiss ist, dass das Leben bald zu Ende geht, können die einen oder anderen Wünsche aufkommen: die Hochzeit des Enkels besuchen, auf einen Markt gehen oder noch ein letztes Mal an die Ostsee fahren. Dafür gibt es die Wünschewagen: ein Projekt des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB), das es sich zum Ziel gesetzt hat, diese letzten Wünsche zu erfüllen.
In ganz Deutschland sind 23 Wünschewagen unterwegs, jedes Bundesland verfügt über mindestens einen, flächenmäßig große Bundesländer über zwei. Der erste Wünschewagen ging 2014 in Essen in den Einsatz und mittlerweile wird freudig das Jubiläum im kommenden Jahr erwartet. Das ist herauszuhören, wenn die Projektkoordinatorin des Berliner Wünschewagens, Leonore Schäfer, von ihrer Arbeit erzählt. Neben ihr gibt es nur eine weitere Festangestellte – das tatsächliche Wünscheerfüllen hängt von 60 Berliner Ehrenamtlichen ab. »Ohne unsere Wunscherfüller*innen könnten wir dieses Projekt nicht umsetzen. Wir sind sehr dankbar dafür«, schwärmt sie.
Der Wünschewagen soll »die letzten Herzenswünsche wahr machen«. Ob die Wünsche klein oder groß seien, spiele keine Rolle, sagt Schäfer. Sie seien sehr individuell und je nach Gesundheitszustand der kranken Menschen könnten Angehörige die Erfüllung von Wünschen nicht alleine leisten. »Da setzen wir an.« Schäfer betont aber, dass der Wünschewagen kein Transportdienst für kranke Menschen sei, denn das gebe es schon anderweitig. Vielmehr gehe es darum, den Kranken oder Wünschenden, wie Schäfer sie nennt, einen Wunsch von vorne bis hinten zu erfüllen.
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Dazu sei meist eine Reise inklusive spezieller Unterstützung nötig. So könnten manche Menschen nicht in einem Personenwagen fahren, weil sie zum Beispiel liegend oder mit einer Sauerstoffflasche transportiert werden müssen. »Wir wollen die sterbenskranke Person einen Tag rundum verwöhnen und die Angehörigen entlasten, sodass sie sich um nichts mehr kümmern müssen«, erklärt Schäfer. In seltenen Fällen würden auch Übernachtungen organisiert. »Man kann uns alles fragen und wir versuchen alles, um es umzusetzen. Das ist das Schöne an diesem Beruf. Wir versuchen, alles möglich zu machen«, erklärt Schäfer.
Der Berliner Wünschewagen ist seit 2016 im Einsatz. Allein im Jahr 2023 kamen 136 Anfragen auf Wunschfahrten zusammen. Die Wunschanfrage kann von allen schwererkrankten Menschen per Mail oder Anruf gestellt werden. Häufig erhalte der Wünschewagen die Anträge auch von Angehörigen oder Hospizmitarbeitenden. Die erkrankte Person muss in Berlin leben, ansonsten wird der Wunsch an das passende Bundesland weitergegeben. Wenn so weit alles passt, wird die Realisierbarkeit des Wunsches abgeklärt. Dazu werden unter anderem die Medikamentenpläne der Betroffenen einbezogen und Rettungsdienste konsultiert.
Die Ehrenamtlichen tragen einen wichtigen Teil zur Umsetzung bei, da sie alle eine medizinisch relevante Qualifikation mitbringen. Es handelt sich bei ihnen oft um Pflegefachkräfte oder Rettungssanitäter*innen, andere haben einen vergleichbaren medizinischen Hintergrund oder wurden vor ihren ersten Einsätzen vom Arbeiter-Samariter-Bund geschult. Eine solche Qualifikation ist für die unentgeltliche Tätigkeit beim Wünschewagen zwingend. Dennoch müssen die Ehrenamtlichen im Notfall keine Entscheidungen treffen und können diese Last an die Projektkoordination abgeben, die während der Wunschfahrt erreichbar bleibt. In der Regel fahren zwei bis drei Ehrenamtliche auf einer Wunschfahrt mit.
Weil die Betroffenen schwer krank sind, muss dies alles sehr schnell und koordiniert passieren. Wenn alle Zusagen eingetroffen sind, wird die Planung idealerweise innerhalb von 20 Tagen abgeschlossen und die Wunschfahrt in die Wege geleitet. Neben der medizinischen Abklärung und der Koordination mit Ehrenamtlichen wird die Barrierefreiheit sichergestellt, Tickets werden organisiert oder Restaurants ausgesucht, sodass an Ort und Stelle möglichst viel bereits geregelt ist. Die Wunschfahrt ist für die kranke Person sowie die Angehörigen kostenlos. Reisen von Berliner Schwerkranken gehen oft an die Ostsee oder zu Sportveranstaltungen. Die Wunschfahrten werden komplett aus Spenden finanziert. »Diese stammen von Privatpersonen, Angehörigen oder Firmen«, erzählt Schäfer. So hat auch schon der Fanclub der BR Volleys gespendet.
Auch die Berliner Band Knorkator hat über 16 000 Euro an den Wünschewagen Berlin gespendet. Verschiedene Vereine übernehmen Tickets, so zum Beispiel die BR Volleys, FC Union, Alba und Hertha. Das spart die Kosten, die bei einer Wunschfahrt entstehen. Wie viel eine Erfüllung im Schnitt kostet, kann Schäder nicht sagen, zu individuell seien die Wünsche. Grob rechnet sie mit 1000 bis 1500 Euro pro Wunschfahrt. Mithilfe der Spenden konnten 2023 insgesamt 30 Wünsche von schwerkranken Berliner*innen erfüllt werden.
Insgesamt erreichen den Wünschewagen aber mehr Anfragen, als das Team umsetzen kann. Manchmal sind die Wunschfahrten schon bis ins kleinste Detail geplant und müssen dennoch abgesagt werden, weil sich die Lage der kranken Menschen schlagartig verschlechtert oder die Menschen innerhalb kurzer Zeit verstorben sind. Schäfer appelliert deshalb an die Wünschenden, die Wünsche früh zu äußern und den Wünschewagen anzufragen. Denn oft trauten sich Menschen nicht, den Kontakt aufzunehmen, erzählt sie.
Bei den Wünschen gehe es oft darum, Zeit mit Menschen zu verbringen. Mario Krause, ein ehrenamtlicher Wunscherfüller, berichtet von einem berührenden Erlebnis: »Die Wünschende, eine 104-jährige Frau, wollte ihre Familie in einem brandenburgischen Dorf sehen. Und so saßen wir am Wunschtag gemeinsam an einem Kaffeetisch – alle fünf Generationen vereint.« Besonders sei eigentlich jede Wunschfahrt, weil die Wünschenden sich immer sehr auf den Tag freuten und ihre ganze Kraft für die Reise aufbrächten.
Gleichzeitig wird den Angehörigen mit dem Erfüllen des Wunsches auch bewusst, dass das der Beginn des Abschied von einer geliebten Person ist. Krause empfindet den Wunschtag trotzdem nicht als traurig, eher im Gegenteil: Obwohl im Laufe des Tages die eine oder andere Träne vergossen werde, seien es immer sehr schöne Erlebnisse, bei denen auch viel gelacht werde. »Es ist eher nachdenklich als traurig. Man hat aber dennoch immer sehr viel Spaß und nimmt als Wunscherfüller selbst was mit.« Auch für die Angehörigen sei es ein ganz besonderes Erlebnis, weil sie die Wünschenden dann ganz anders in Erinnerung behalten könnten, bevor diese ablebten.
Der Kontakt mit so vielen verschiedenen Menschen – von Wunscherfüllern bis zu Wünschenden und Angehörigen – mit ihren unterschiedlichen Geschichten gehört für Krause zu den schönsten Erfahrungen. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit ist er Sachbearbeiter. Auf den Wünschewagen ist er nur zufällig gestoßen, weil seine Tochter sich als Rettungsschwimmerin engagiert. Inzwischen erfüllt er seit drei Jahren Wünsche in Berlin. Was er ursprünglich ausprobieren wollte, um seine Zeit sinnvoll zu nutzen, ist zu einem Herzensprojekt geworden. Er könne dieses Projekt jedem empfehlen, sagt er. »Je mehr Leute spenden oder sich ehrenamtlich engagieren, desto flexibler sind wir und umso mehr Wünsche können wir erfüllen.«
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