Gebote

Warum man Tradionen beschneiden, aber nicht abschneiden kann

In einer Zeit, da ich noch jünger war, als ich später geworden bin, habe ich die Gebote befolgt. Nicht alle und nicht so konsequent, aber ich habe sie befolgt, während ich heute alle und sehr konsequent – nicht befolge.

Manchmal vergesse ich sogar, was die Gebote eigentlich sind. Und da denke ich: Ich sollte mir vielleicht wieder ein Bild machen…

»Ihr Juden habt doch so viele Gebote. Wie viele sind es doch gleich?«

»Oj, was weiß ich, keine Ahnung. Ich habe nach zehn aufgehört zu zählen…«

Stellt euch nur vor, Gottes letztes Gebot sei das zehnte gewesen. Da kriegte ja jeder Auktionator das Lachen! Darum gibt es bei uns sehr viele Gebote, selbst wenn man die Verbote nicht mitzählt, was bestimmt auch verboten ist, aber nicht zählt, wenn die wir die Verbote nicht mitzählen wollen.

Wenn man die Gebote in der Schrift zählt, kommt man auf 248. Das ist zwar schon mehr als zehn, aber immer noch weniger als nötig, weshalb es auch noch andere Gebote gibt, aber diese Gebote aufzuschreiben ist verboten.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Immerhin sind 248 Gebote weniger als im Bürgerlichen Gesetzbuch stehen. (In Paragraph 248 des Bürgerlichen Gesetzbuches geht es übrigens um den Zinseszins. Und da soll einer noch leugnen, die deutsche Rechtsprechung sei antisemitisch!)

Zum Glück muss man nicht immer alle Gebote befolgen, und manchmal ist es sogar verboten, ein Gebot zu befolgen, weil es geboten ist, ein Verbot zu befolgen. Das steht zwar so nicht im Talmud, aber man könnte es glauben – und da es nun einmal um Glaubensfragen geht…

Wir Juden haben ohnehin unser ganz eigenes Verhältnis zum Glauben und zur Tradition und zu den Geboten. Manche von uns befolgen keine Gebote, nur dass sie am Schabbes nicht arbeiten und, wenn es nach einigen deutschen Philosophen geht, an allen anderen Tagen auch nicht. Manche studieren keinen Talmud, aber reden trotzdem irgendwie wirr. Was ist Talmud? Talmud ist, wenn es auf eine Antwort zu viele Fragen gibt. Manche von uns sprechen kein Hebräisch mehr und kein Jiddisch, aber dafür dreimal so viel Deutsch, um auch all das zu sagen, was sie zusätzlich auf Hebräisch und auf Jiddisch gesagt hätten. Viele glauben noch nicht einmal mehr an Gott – und sind auf ihn ziemlich sauer, weil er nicht existiert. Das hätte er nun wahrlich besser einrichten können.

»Moische, was würdest du eigentlich antworten, wenn ich dich fragen würde, ob du an Gott glaubst?«

»Das kommt darauf an!«

»Worauf?«

»Ob er gerade zuhört oder nicht!«

Einige glauben fast noch immer an Gott, andere fast schon wieder. Aber am Ende ist es nur eine Frage der Abfolge: Hat zuerst Gott den Menschen erschaffen – oder umgekehrt?

So oder so: Es reicht nicht zu glauben, dass es Gott gibt, man muss auch was dafür tun. Zum Beispiel die Gebote befolgen.

»Moische, glaubst du an Gott?«

»Wie kannst du fragen! Natürlich!«

»Und wieso befolgst du dann nicht die Gebote, wenn du doch an Gott glaubst?«

»Nu, meine Frau sagt, ich hab immer unrecht!«

Trotzdem steht und fällt alles mit den Geboten, und das heißt natürlich, dass alles eher fällt als steht. Es gibt eine feste Übereinkunft zwischen den Juden und ihrem Gott. Die einen folgen nicht seinen Geboten, der andere folgt nicht ihren Gebeten.

»Rebbe, wie konnte Gott all das Leid zulassen? Ist Gott etwa nicht allmächtig?«

»Wie kannst du fragen! Natürlich ist er das – teilweise!«

Aber hat Gott vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil er all das Leid zugelassen hat? Vielleicht hat er es, und vielleicht ist genau das der Grund, weshalb er nicht da ist, denn was wäre das schon für ein Gott – mit einem schlechten Gewissen?

Uns kann er dafür ganz schön schlechtes Gewissen machen, fast so gut wie unsere Mütter. Dafür haben sie die Verbote. Und Gott auch. Da stellt sich natürlich wieder die Frage nach der Abfolge: Hat zuerst Gott die Mütter mit den Verboten – oder haben die Mütter für die Verbote Gott erfunden?

Es wäre schön, wenn sich die Gebote und die Verbote gegenseitig aufhüben (und das klingt schon so unwahrscheinlich, wie es wahrscheinlich ist!), denn dann könnte man leben, wie man will. Das kann man natürlich auch so, wenn man nicht nach dem Gesetz leben will, aber nicht nach dem Gesetz leben wollen ist vom Gesetz leider verboten.

Und Verbote haben wir eben noch mehr als Gebote, nämlich 365 – sozusagen für jeden Tag einen. Wenn wir das so auslegen, würde das bedeuten: Es ist zwar jeden Tag etwas verboten, aber es sind immerhin jeden Tag 364 verbotene Dinge erlaubt. Diese Auslegung nenne ich Alltagstalmud.

Manche Dinge sind trotzdem das ganze Jahr über verboten. Zum Beispiel darf man, wie gesagt, am Schabbes nicht arbeiten, aber auch an all jenen Tagen, an denen Precht kein Philosoph ist.

Doch das mit den Verboten ist so eine Sache. Bei uns darf man zum Beispiel kein Schweinefleisch essen. Aber wir essen trotzdem Schweinefleisch, nur mit schlechtem Gewissen. Man muss eben Prioritäten setzen: Entweder du hast ein gutes Gewissen oder du hast einen guten Schweinebraten. Bei uns darf man auch keine Nichtjüdinnen heiraten. Aber wir heiraten trotzdem Nichtjüdinnen und machen ihnen dann ein schlechtes Gewissen, zum Beispiel weil sie uns immer Schweinefleisch geben.

Vielleicht sind wir sogar fast keine Juden mehr, aber dieses Fast macht uns am meisten aus. Wir lassen immer etwas von der Tradition da, zumindest ein wenig, zumindest a bißele. Man kann die Tradition eben nicht abschneiden, nur beschneiden – wenn Ihr wisst, was ich meine. Denn es heißt: »Beschneidet nun die Vorhaut eures Herzens und seid nicht ferner hartnäckig.« Gerade deshalb haben wir eine so lange Tradition – weil wir sie regelmäßig beschneiden.

»Frohes neues Jahr!«

»Ich bin Jude. Das war bei uns schon.«

»Und welches Jahr ist es jetzt nach jüdischem Kalender? 5000? 6000?«

»Oj, was weiß ich, keine Ahnung. Ich habe schon vor paar tausend Jahren aufgehört mitzuzählen...«

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