Arbeitskämpfe 2023: Zusammen ist man weniger allein

Durch neue Bündnisse kommen die deutschen Gewerkschaften ein Stück weit aus der Defensive

Hohe Preise für Wohnen, Energie und Lebensmittel haben 2023 die Kaufkraft weiter gemindert. Die Reallöhne vieler Beschäftigter sind nochmals gesunken. Gleichzeitig ist der Protest dagegen gewachsen, Zehntausende haben die Arbeit niedergelegt, um Verbesserungen durchzusetzen. Das Besondere daran waren neue Kooperationen, die zukunftsweisend sind.

Zum ersten Mal haben die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Eisenbahngewerkschaft EVG in diesem Jahr ihre Kräfte gebündelt und einen Tag lang gemeinsam gestreikt. Am 27. März stand der öffentliche Verkehr in Deutschland weitgehend still, kaum ein Zug, Flugzeug, Bus oder Schiff bewegte sich, als rund 30 000 Eisenbahner und mehr als 120 000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen zeitgleich die Arbeit niederlegten. Der gemeinsame Megastreik war ein eindrückliches Bild für ihre Warnung: Wenn es nicht gelingt, die Berufe bei Bus und Bahn auch finanziell wieder attraktiv zu machen, wird Stillstand nicht die Ausnahme, sondern die Regel werden.

Die Kooperation war auch ein Versuch, ein Stück verlorene Durchsetzungskraft zurückzugewinnen. Beide Gewerkschaften mussten seit den 1990er Jahren bluten, als diverse Bundesregierungen den öffentlichen Bereich zusammenkürzten und privatisierten, etwa im Nahverkehr oder in der Müllentsorgung. Dies verschlechterte nicht nur die Arbeitsbedingungen massiv, gleichzeitig wurden auch traditionell streikstarke Beschäftigtengruppen aus dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes ausgegliedert. Auch im Schienenpersonenverkehr, den die EVG maßgeblich organisiert, ist die Tariflandschaft zersplittert, seit im Zuge der Bahnreform private Anbieter viele Strecken übernommen haben und die Deutsche Bahn auf Rendite getrimmt wird.

Trotz alledem – Wie Menschen gemeinsam für ihre Rechte kämpfen

Für Millionen Menschen war 2023 geprägt durch Kriege, Flucht und materielle Unsicherheit. Hetze gegen die vermeintlich Anderen grassiert. Die EU grenzt Flüchtlinge zunehmend aus. Derweil steigen Mieten und Löhne sinken. Doch 2023 gab es auch Bewegungen, die sich all dem widersetzen.

Russen wenden sich gegen den Krieg, Beschäftigte streiken gemeinsam für ihre Rechte, Mieterinnen kämpfen für bezahlbares Wohnen. In »nd.DieWoche« stellen wir einige Initiativen und Bewegungen vor, die auf Solidarität und Versöhnung setzen. Mehr auf www.nd-aktuell.de/die-woche

Angesichts unterschiedlicher Laufzeiten von Tarifverträgen und Verhandlungsdynamiken ist die Synchronisierung von Streikbewegungen kompliziert. Dieses Jahr allerdings befanden sich beide Gewerkschaften des Mobilitätssektors zeitgleich in Tarifverhandlungen – eine seltene Gelegenheit zur Kooperation, die gesehen und genutzt wurde.

Auch über diesen einen großen Streiktag hinaus beteiligten sich in diesem Jahr weit mehr Menschen an Warnstreiks als in der Vergangenheit, allein im öffentlichen Dienst im Frühjahr eine halbe Million. Das zeugt von Wut unter den Beschäftigten, aber auch von einem neuen Selbstbewusstsein. Und es zeugt von einer sich langsam wandelnden Gewerkschaftskultur, in der Mitglieder weit mehr mitgestalten können als früher – was zur Beteiligung motiviert.

Sich gegenseitig stärken und gemeinsam mehr durchsetzen – das ist auch das Motiv, aus dem Verdi und Klimabewegung miteinander kooperieren und dabei Gräben überwinden, die aus unterschiedlichen politischen Kulturen und sozialen Hintergründen resultieren. Wie das gelingt? Durch persönliche Begegnungen und Gespräche am Streiktor, im Betriebshof oder Gewerkschaftshaus, wo sich Klimaaktivisten einfinden und ihre Unterstützung anbieten. Das hat Vorurteile und Misstrauen schwinden lassen.

Das beste Bild dafür lieferte der Klimastreik am 3. März. An diesem Tag führten in Köln 300 Busfahrer die dortige Klimademo an. An diesem Tag stand Fridays for future zum ersten Mal nicht allein als Klimabewegung auf der Straße, sondern gemeinsam mit den Menschen, die die Klimajobs machen. Für Fridays bedeutete es den ersten Schritt vom symbolischen zum ökonomischen Klima-Streik, für Verdi, deutlich machen zu können, welche Relevanz ihre Tarifauseinandersetzung auch für die Zukunftsfragen der Menschheit hat.

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