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Vorwurf gegen G20-Gipfel-Gegner: Dabei gewesen
Mitte Januar beginnt ein Prozess gegen sechs Linke, die 2017 gegen den G20-Gipfel demonstrierten. Die Staatsanwaltschaft strebt eine Verurteilung an
Am frühen Morgen des 7. Juli 2017 waren in Hamburg zahllose Menschen auf den Beinen, um das beginnende Gipfeltreffen der wichtigsten Industriestaaten zu stören. Auch vom Protestcamp im Altonaer Volkspark starteten viele Hundert Personen auf verschiedenen Wegen in Richtung Innenstadt, um die Anreise der G20-Staatschefs zu behindern. Etwa 200 von ihnen zogen teilweise mit Transparenten und Fahnen sowie politische Parolen rufend über die Schnackenburgallee ins Gewerbegebiet Rondenbarg. Dort wurden sie von der Polizei gestoppt.
Etwa 80 der Demonstrant*innen haben zwischenzeitlich Anklagen wegen schweren Landfriedensbruchs erhalten. Ein Gerichtsverfahren gegen sechs Betroffene wird am 18. Januar beginnen. Bisher sind bis August 2024 insgesamt 25 Prozesstage vor dem Landgericht Hamburg angesetzt, wie die Solidaritätsorganisation Rote Hilfe mitteilte.
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In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft atmet noch der Geist der Hamburger Polizeibehörde unter dem damaligen Einsatzleiter Hartmut Dudde. Dieser kündigte 2017 anlässlich des G20-Gipfels an, der Polizeieinsatz werde einer »Null-Tolerenz-Strategie« mit großer Polizeipräsenz folgen. Beamte sollten schon bei kleinen Regelverletzungen einschreiten, auch mit Festnahmen. Dieses zu keinem Zeitpunkt auf Kooperation ausgelegte Polizeikonzept – einschließlich großflächiger Versammlungsverbote – hatte maßgeblich zur Eskalation beigetragen, die damals in der Hansestadt hautnah zu erleben war.
Kollegen von Dudde äußerten deshalb öffentlich Kritik. Darunter sein Ausbilder Professor Hans Alberts, der in der »Süddeutschen Zeitung« die Hamburger Polizeiführung kritisierte, »dass ihre Positionen und Handlungen nicht dem Erkenntnisstand in der Polizei-Wissenschaft entsprechen«. Auch der frühere Kölner Polizeidirektor Udo Behrendes, der in hunderten Demonstrationseinsätzen mit Führungsaufgaben betraut war, verwies auf bewährte Deeskalationskonzepte bei vergleichbaren Ereignissen. Sogar staatsnahe Sozialwissenschaftler beurteilten die Hamburger Polizeistrategie als gescheitert. Aber auf Seiten der Hamburger Ermittlungsbehörden will bis heute keiner Fehler eingestehen. Der Soziologe und Hochschullehrer Wilhelm Heitmeyer vermisst deshalb eine Fehlerkultur bei der Polizei.
Leidtragende dieser fehlenden Einsicht sind nun die sechs Angeklagten. Die Anklageschrift aus dem Jahr 2019, die »nd« vorliegt, rechtfertigt das polizeiliche Vorgehen und greift die damalige Stimmungsmache auf. Weit über 50 Mal ist auf den 39 Seiten von einem »Schwarzen Block« die Rede, über 30 Mal wird von einem »Aufmarsch« im Rondenbarg gesprochen, kein einziges Mal von einer »Demonstration«. Das verwendete Vokabular zeichnet ein vorverurteilendes Bild der Angeklagten. Es entsteht der Eindruck, dass mit der Wortwahl und dem scharfen Ton die Bösartigkeit der Demonstrant*innen betont werden soll. Viel mehr hat die Staatsanwaltschaft gegen die Angeklagten nicht in der Hand: Ihnen können keine konkreten Tatvorwürfe zugeordnet werden.
Zwar haben laut Polizeiaufnahmen einzelne vermummte Demoteilnehmer*innen aus der Ferne Steine, Rauchkörper oder ähnliches geworfen, jedoch keine Menschen getroffen. Verletzte gab es erst nach dem Polizeizugriff und ausschließlich auf Seiten der Demonstrant*innen.
Weil den sechs Angeklagten keine individuelle Schuld nachzuweisen ist, strebt die Staatsanwaltschaft eine Art kollektive Verurteilung an, was das deutsche Strafrecht nur in besonderen Fällen zulässt. Damit bekommt die Anklage eine besondere Brisanz. Sie beruft sich auf die sogenannte Hooligan-Entscheidung des Bundesgerichtshofs von Mai 2017, wonach eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs durch »ostentatives Mitmarschieren« in einer gewaltbereiten Menge möglich ist. Dafür muss die Staatsanwaltschaft allerhand konstruieren, unter anderem den politischen Charakter des Demonstrationszugs leugnen.
Bei ihren Konstruktionen verliert sich die Anklagebehörde in Widersprüche: Die Teilnehmer*innen hätten sich »einheitlich schwarz gekleidet« im Volkspark versammelt, heißt es zunächst. Eine Videoaufnahme bestätigt eine weitgehend dunkle Bekleidung der sichtbaren Personen in den vorderen Reihen. Im hinteren Teil sei es bunter gewesen, berichteten dagegen Teilnehmer*innen 2017 dem NDR. Nicht einmal auf die sechs Angeklagten trifft der Vorwurf der einheitlich dunklen Kleidung zu: Eine Person trug ein rotes Oberteil, eine andere eine hellblaue Hose, so die Anklageschrift.
Neben der »einheitlichen Kleidung« hätten sämtliche Teilnehmer*innen auch einen »gemeinsamen Tatplan« gehabt – und damit von den angeblich geplanten Attacken auf Polizeikräfte gewusst oder diese billigend in Kauf genommen. Gleichzeitig ordnet die Staatsanwaltschaft die Rondenbarg-Demo der »Finger-Taktik« von BlockG20 zu.
Allerdings ist es kein Geheimnis, dass die Initiative BlockG20 das Ziel hatte, von verschiedenen Orten in der Stadt in Richtung Tagungsort und auf die Zufahrtswege zu gehen, um die Protokollstrecken der Gipfelteilnehmer zu blockieren. BlockG20 hatte dazu klare Absprachen getroffen, die Angriffe auf die Polizei ausschloss: »Von uns wird dabei keine Eskalation ausgehen«, heißt es im vereinbarten Aktionskonsens. Kein Wunder, dass diese Information in der Anklageschrift fehlt, würde sie doch der Argumentation der Staatsanwaltschaft widersprechen.
Der Gerichtsprozess, der in knapp zwei Wochen beginnt, ist bereits der dritte seiner Art. Die beiden Verhandlungen gegen den italienischen Jugendlichen Fabio V. bzw. gegen fünf weitere Jugendliche mussten im Februar 2018 wegen Mutterschutz der Richterin bzw. im Januar 2021 wegen der Corona-Pandemie abgebrochen werden. Es gab also in dieser Sache noch keine Urteile. Insofern kann das neue Verfahren zu einer Vorlage für die weiteren Rondenbarg-Beschuldigten werden.
In beiden vergangenen Gerichtsprozessen zeigte die Hamburger Staatsanwaltschaft, dass sie hohe Haftstrafen anstrebt. Damit versucht sie offenbar die mit viel Aufwand geführten Ermittlungen einschließlich der Öffentlichkeitsfahndungen zu rechtfertigen, die weitgehend erfolglos blieben. Die zahlreichen Verursacher*innen der tatsächlich andernorts entstandenen Sachschäden an diesem 7. Juli 2017 in der Elbchaussee und im Schanzenviertel konnte sie bis heute nicht ermitteln. Als ob sie diese Niederlage vergessen machen will, führt sie nun umso vehementer die Anklage gegen namentlich bekannte Demonstrationsteilnehmer*innen am Rondenbarg.
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