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Nguyen Van Tu: Umstrittenes Gedenken
Eine Skulptur in Erinnerung an Nguyen Van Tu sorgt für Kritik aus der vietnamesischen Community
»Ich weiß nicht, ob ich, so wie das gelaufen ist, an diesem Ort gedenken kann. Das ist kein Denkmal für uns«, sagt Trung N. von einer Initiative vietnamesischer und vietnamesisch-deutscher Kulturschaffender. Das Denkmal, über das N. und deren Mitstreiter*innen immer noch wütend sind, wurde am 15. Dezember 2023 in Marzahn-Hellersdorf vom Bezirksamt eingeweiht. Zwei Steine erinnern an den 1992 von Neonazis ermordeten Nguyen Van Tu. Dass an ihn erinnert werden soll, darüber sind sich alle einig. Uneinigkeit besteht in der Frage, wie dieses Gedenken aussehen soll.
Nguyen Van Tu war 1987 als Vertragsarbeiter aus Vietnam in die DDR gekommen und arbeitete bis zur Wende in Thüringen. Am Tag, an dem er ermordet wurde, besuchte Tu Freunde in Berlin, die am Einkaufszentrum am Brodowiner Ring in Marzahn Zigaretten und Textilien verkauften. Mike L. und seine Freunde störten sich daran und stießen die Zigarettenkisten um. Als Tu die Angreifer zur Rede stellte, stach L. mit einem Messer zu. Der selbst ernannte Unterstützer der Nazi-Partei Deutsche Volksunion (DVU) wurde vom Landgericht Berlin wegen »Körperverletzung mit Todesfolge« zu lediglich viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
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Bereits kurz nach dem Mord brachten Antifaschist*innen eine provisorische Gedenktafel mit einem Zitat von Bertolt Brecht an. Diese wurde schon kurze Zeit später zerstört. Die Bezirksverwaltung sträubte sich lange gegen einen offiziellen Gedenkort am Ort des Geschehens. 2011 entschied sich die Bezirksverordnetenversammlung gegen ein Mahnmal mit der Begründung, »die Anbringung einer Gedenktafel vor oder in einem Einkaufszentrum« werde »dem tragischen Ereignis nicht gerecht«. Stattdessen erinnert seitdem nur eine Widmungsinschrift an einer Skulptur in der Bezirksbibliothek an Tu – mit falschem Todesdatum und Rechtschreibfehler im Namen.
2017 nahmen Antifaschist*innen die Sache selbst in die Hand. Nach dem 25. Todestag verlegten sie eine Gedenkplatte. Aber auch diese mit Metall umfasste Granitplatte wurde – vermutlich von Neonazis – zerstört. Nachdem sie erst mit Beton übergossen worden war, sodass die Inschrift nicht mehr zu lesen war, wurde sie später komplett entfernt. Auch eine später an einer Wand angebrachte Gedenktafel wurde mutwillig entfernt. Erst im Dezember 2023 wurde dann am Tatort ein Denkmal vom Bezirk eingeweiht: Zwei Steine, von denen einer als Sitzbank dienen soll, der andere als Gedenkschale.
Auch die Initiative für dieses Denkmal ging von Aktivist*innen aus: »Wir dachten damals – das war 2020 – dass es gut wäre, wenn die Gedenktafel, die es ohnehin schon dort gibt, erneuert wird. Wir wollten, dass der Bezirk sich künftig verantwortlich fühlen muss und eine neue Tafel anbringt«, so Lisa Mehner von der »Initiative von Anwohner*innen« (IA) im Gespräch mit »nd«. Der Vorschlag der Initiative gewann einen jährlich vom Bezirk veranstalteten Wettbewerb zu einem »Bürgerhaushalt«. Für die von der IA gewünschte Tafel wurde ein Budget von 15 000 Euro zur Verfügung gestellt. »Eine Tafel, egal wie groß und aus welchem Material, hätte auf jeden Fall weniger gekostet«, so Mehner weiter. Deswegen wurde von einer bezirklichen Kommission für Gedenkorte beschlossen, ein Denkmal zu errichten. »Wir wollten etwas Gutes machen, und plötzlich fanden wir uns ungewollt in einem Kunstwettbewerb.«
Trung N. bemängelt, dass in diesem Kunstwettbewerb die vietnamesische Community nicht eingebunden worden sei. »Das ist so einer Projektlogik gefolgt. Wir hatten den Eindruck, dass die Herangehensweise war: Hauptsache, es wird was gemacht.« Zwar sei eine vietnamesische Organisation in die Jury zur Auswahl der Skulptur eingeladen worden, allerdings nur als Gäste ohne Stimmrecht. N. kritisiert auch, dass das bezirkliche Gedenken den Mord an Nguyễn Văn Tú nicht kontextualisiert: »Rassistische Morde passieren in einem Umfeld. Durch den inhaltsleeren Prozess wird das Gedenken entpolitisiert.«
Deswegen intervenierte die Initiative bei der Einweihung der Skulptur mit einem stillen Protest und Schildern, auf denen unter anderem stand: »Wo sind die vietnamesischen Stimmen?« oder: »Für euch Gewissenserleichterung, für uns kollektiver Schmerz«.
Der verantwortliche Bezirksstadtrat Stefan Bley (CDU) sieht das anders: »Wir haben an allen Stellen versucht, die vietnamesische Community einzubinden. Auch an der Auswahl waren vietnamesische Vereine beteiligt. Das Anliegen, nicht nur Nguyen Van Tu, sondern aller Opfer rechter Gewalt zu gedenken, ist durchaus berechtigt; in diesem Fall sehe ich meine Verpflichtung aber in der Umsetzung des vom Bürgerhaushalt vorgesehenen Projekts. Ich bin aber auch weiter gesprächsbereit und offen für Kritik.«
»Es ist nicht unser Anliegen, die Initiativen zu kritisieren, die mit ihren Mitteln gedenken, aber es braucht mehr Bündnisse für ein Gedenken von unten, das nicht in die dominanzgesellschaftliche deutsche Erinnerungskultur einverleibt werden kann«, resümiert Trung N. Für die Zukunft will die Initiative Bündnisse schließen und fordert »neue Maßstäbe für die Auslobung solcher zukünftiger Wettbewerbe, die nicht ohne die Involvierung der betroffenen Familienmitglieder und erweiterten Communitys der Betroffenen stattfinden darf«.
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