Die Frauen und die Kinder von Lidice

Das Buch »Zerissene Leben« erzählt von den tschechoslowakischen Opfern des KZ Ravensbrück

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die kahle Fläche, wo einst unsere Häuser gestanden hatten, war von Menschen überfüllt. Auf der Tribüne stand Präsident Edvard Beneš mit Gemahlin und einige Minister der Regierung. Wir, die Frauen von Lidice, standen unter ihnen und schauten auf das Grab unserer Männer«, erinnerte sich Jaroslava Suchánková-Skleničková an die Trauerfeier am 10. Juni 1945. »Ich war so niedergeschlagen, dass ich gar nicht weinen konnte. Wenn ich es doch gekonnt hätte. Mein Hals war zugeschnürt, als würde mich jemand würgen.«

Am 4. Juni 1942 war SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, an den Folgen eines Attentats verstorben. Verübt hatten es tschechoslowakische Fallschirmspringer, mit diesem Auftrag losgeschickt von der Exilregierung in London. Um sich zu rächen, verübten die Faschisten das berüchtigte Massaker von Lidice. Am 10. Juni 1942 löschten sie das Dorf aus. Alle männlichen Personen ab 16 Jahren wurden sofort ermordet. 184 Frauen wurden am 14. Juni ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Am 13. Juli kamen dann sieben weitere Frauen an, die man inzwischen von ihren kleinen Kindern getrennt hatte. Mindestens 52 Frauen von Lidice überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht. Die nach der Befreiung in die Heimat Zurückgekehrten nahmen dann im Juni 1945 schwer traumatisiert an der offiziellen Trauerfeier auf dem freien Feld von Lidice teil. Die Mütter wussten noch immer nicht, was aus ihren Kindern geworden war. Bis 1946 gelang es den Behörden, 17 von insgesamt 105 Kindern ausfindig zu machen. Sie waren bei deutschen Eltern in Pflege gegeben worden, um im Geiste des Nationalsozialismus erzogen zu werden. 82 Kinder aber kamen ins Lager Kulmhof und sind dort höchstwahrscheinlich Anfang Juli 1942 ermordet worden.

Pavla Plachá, die an der Karlsuniversität in Prag Germanistik und Geschichte studierte, schildert diese Schicksale in ihrem Buch »Zerrissene Leben« über die tschechoslowakischen Frauen im KZ Ravensbrück. Den Originaltitel »Zpřetrhané životy« veröffentlichte sie 2021 im Prager Verlag Pulchra. Der Hamburger Verlag VSA brachte nun eine von Marika Jakeš besorgte deutsche Übersetzung heraus.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Es ist nach Angaben der Autorin das erste tschechische Buch, das sich sämtlichen Opfern widmet, die aus dem Staatsgebiet der Tschechoslowakei in den Grenzen vor dem Münchner Abkommen von 1938 stammten und nicht nur den Tschechinnen und Slowakinnen. Vor allem die Deutschen aus dem von Hitler seinem Reich einverleibten Sudentengebiet – es waren in erster Linie von dort stammende Kommunistinnen und Sozialdemokratinnen, die im KZ Ravensbrück eingesperrt wurden – fanden bisher wenig bis gar keine Beachtung. Die deutsche Minderheit, nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend vertrieben, war in den Nachkriegsjahrzehnten ein Tabu.

Dabei war die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) nach dem Ersten Weltkrieg die einzige Partei des neuen Staates, in der Menschen aus allen Volksgruppen mitwirkten, während die tschechischen und die sudetendeutschen Sozialdemokraten und die bürgerlichen Parteien jeweils eigene Parteien gründeten. Doch in dem 1960 in der Tschechoslowakei erschienenen Sammelband »Ravensbrück« wurde bei der Kommunistin Ilse Machová-Kreibichová, die sich wegen ihrer Bedeutung nicht übergehen ließ, einfach die deutsche Abstammung verschwiegen.

Zu den bis zu 5000 Frauen aus der Tschechoslowakei, die in den Jahren 1939 bis 1945 im KZ Ravensbrück gewesen sind, gehören auch Frauen der polnischen Minderheit, die von den Faschisten besonders hart behandelt worden sind, sowie Jüdinnen aus der Slowakei und auch aus der Karpatenukraine, die seinerzeit von dem mit Hitler verbündeten Ungarn besetzt war. Von den jüdischen Frauen aus der Slowakei sind schätzungsweise 70 Prozent ermordet worden.

Pavla Plachá vergisst auch nicht die Sinti und Roma und sie widmet sich den Frauen, die als Asoziale und Kriminelle stigmatisiert waren. Sie berichtet ebenso von Lesben, von Nonnen, von Zeuginnen Jehovas und von Frauen, die ins KZ kamen wegen Liebesbeziehungen zu Juden, wegen sogenannter Rassenschande also, oder Beziehungen zu Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, was die Nazis als Verkehr mit Fremdvölkischen unter Strafe stellten. Plachá präsentiert in mehr oder weniger kurzen Skizzen die Lebenswege solcher Frauen. Sehr viele von ihnen werden vorgestellt, aber es kann doch nur eine Auswahl der vielen Opfer sein. Im Buch enthalten sind zahlreiche Illustrationen, darunter eindrückliche Zeichnungen der Überlebenden Nina Jirsíková.

Pavla Plachá: Zerrissene Leben. Tschechoslowakische Fraue im KZ Ravensbrück 1939–1945, VSA, 456 Seiten, 34,80 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.