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Irreführende Geständnisse
Otto Runge und Wilhelm Pieck und der Doppelmord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg vor 105 Jahren
Wilhelm Pieck glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er am 12. Januar 1951 in der »Tribüne«, der Wochenzeitung der Gewerkschaften, über den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin las: »Wenige Augenblicke später trat Leutnant Krull auf mich zu und gab mir den Befehl, sofort nach oben zu kommen, da sei ein Redakteur von der ›Roten Fahne‹, welchen ich erschießen soll. Ich fragte: ›Von wem kommen die Befehle?‹ Er antwortete: ›Vom Hauptm. Papst.‹ (…) Oben angekommen, sah ich einen Mann an der Wand stehn und zwei Männer sitzend daneben. Im gleichen Augenblick trat der Stehende auf mich zu und sagte: ›Kamerad, nicht schießen, ich habe noch eine Aussage zu machen.‹ Daraufhin führte ich ihn in das Zimmer von Hauptmann Papst. Ungefähr zehn Minuten später erschien er mit Hauptmann Papst, welcher zu mir sagte: ›Runge, Sie haben darauf zu achten, dass dem nichts geschieht.‹ Er kann auch gesagt haben, führen Sie den Mann ab. Der Fremde rannte vor mir die Treppe herunter und verschwand. Im Wachlokal erfuhr ich dann, dass der Betreffende Wilhelm Pieck war.« Derart soll sich der Unterfeldwebel Otto Runge erinnert haben, der am 15. Januar 1919 im Berliner »Hotel Eden« war, in das die Führer der KPD Liebknecht, Luxemburg und Pieck nach ihrer Verhaftung verschleppt worden waren.
Pieck hatte nach seinem – glücklichen – Überleben den Genossen stets erzählt, er habe sich an diesem 15. Januar gegenüber Hauptmann Pabst (im »Tribüne«-Artikel falsch geschrieben) mit dem Pass eines bürgerlichen Journalisten ausgewiesen und sei deshalb nicht sofort erschossen, sondern zur Überprüfung seiner Identität in ein Gefängnis gebracht worden. Bei der Überstellung ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz sei ihm zwei Tage später, am 17. Januar 1919, mit Hilfe eines mit den Kommunisten sympathisierenden Polizisten die Flucht gelungen.
Am 7. Oktober 1949 Präsident der DDR geworden, hatte Pieck 1951 abermals Glück. Denn seit Herbst 1950 ließ der starke Mann der DDR, Walter Ulbricht, eine »Überprüfung« durch die SED toben, um sie in (s)ein willfähriges Instrument zu verwandeln, mit dem er auf die Gesellschaft loszugehen gedachte. Einstige »Abweichler« wie der Chefredakteur der »Tribüne«, Jacob Walcher, und sonstige des selbstständigen Denkens Überführte störten da nur. Deshalb wurden sie zusammen mit ehemaligen NSDAP- sowie unbotmäßigen einstigen SPD- wie auch KPD-Mitgliedern hinaus-»gesäubert«.
Jacob Walcher, der jüngst durch Regina Scheers beeindruckende Hertha-Walcher-Biografie »Bittere Brunnen« selbst ein wenig wieder in die Öffentlichkeit gerückt wurde, war in der SED nicht irgendwer. Ende Dezember 1918 hatte er zusammen mit Pieck eine Konferenz geleitet, die in die Geschichte als Gründungsparteitag der KPD eingehen sollte. Am 29. April 1951 wurde er jedoch zum »ärgsten Feind der Arbeiterklasse« erklärt und – wie 1928 aus der KPD – nun auch aus der SED ausgeschlossen.
In der von Angst gespeisten Hysterie zählte vor allem eigenes Überleben. Wer sich 1951 an Piecks Rolle im Januar 1919 rieb, verbesserte keineswegs seine Überlebenschancen – abgesehen davon, dass in einer solchen Situation historische Artikel ohnehin nur wenige Leser fanden. Interessanter ist jedoch, dass es der SED-Geschichtsschreibung bis zu ihrem heroischen Ende tatsächlich gelang, die Aussage Runges zu verschweigen, die von der »Tribüne«-Redaktion mit »Der Mord nach 26 Jahren gesühnt« überschrieben worden war.
Am 2. Juni 1945 hatten im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg Kommunisten, die die Nazizeit im KZ oder im Zuchthaus überlebt hatten, den 70-jährigen, dem Tode nahen Runge aufgetrieben und in einem Keller in der Rykestraße eingesperrt. An den eben aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Ulbricht, bis 1933 KPD-Chef von Berlin, schrieben sie: »In der letzten Nacht haben unsere Genossen den Mörder Karl Liebknechts festgenommen, er sitzt in festem Gewahrsam. Heute morgen sollte er der Kommandantur übergeben werden; aber wir befürchteten, dass er dann einfach erledigt wird, wünschen aber, dass das nicht so sang- und klanglos geschieht.«
Diese Berliner Kommunisten hatten noch nicht begriffen, dass die sowjetische Besatzungsmacht der Koch und sie lediglich die Kellner waren. Sie hatten Runge dazu gebracht, eine Aussage abzulegen. Zu einem öffentlichen Geständnis sollte es jedoch nicht kommen. Runge verstarb in sowjetischer Haft am 1. September 1945, jedoch keineswegs durch eine Kugel, sondern an Altersschwäche. Der Militärstaatsanwalt der Roten Armee von Berlin, Nikolai Michailowitsch Kotljar (1910–1995), hatte sich Runge vom Geheimdienst übergeben und ihn in einem eigens für ihn eingerichteten Krankenhauszimmer unterbringen lassen. Dort starb dieser, bevor der Prozess eröffnet werden konnte.
Insgesamt liegen über die Ermordung an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 von Runge drei – sich widersprechende – Aussagen vor. Die erste stammt aus dem Frühjahr 1919; damals bekannte sich Runge zur Alleinschuld und deckte die wahren Mörder: »Die Kriminalbeamten legten mir nahe, dass ich doch alles auf mich nehmen solle. Ich würde höchstens vier Monate eingesperrt. Vereinbart sei schon, dass nach ca. drei Monaten eine Amnestie erlassen würde, dann wäre ich frei. Außerdem erhielte ich doch die von Scheidemann ausgesetzte Prämie in Höhe von 300 000,– Mark. Wenn ich nicht alles auf mich nähme, sondern die Wahrheit aussage, würde keine Ruhe eintreten … (…) In dieser Unterredung sagte mir [Staatsanwalt] Jorns, dass ich alles auf mich nehmen solle. Es ginge nicht an, mich als Zeugen zu vernehmen, sondern ich habe als Angeklagter zu fungieren. (…) Der Gerichtsarzt Leppmann sagte mir ebenfalls, dass ich mich in meinen Aussagen so verhalten solle, sonst könne nicht verhindert werden, dass vielleicht einmal ein Pülverchen in meine Suppe getan würde.«
Nachdem Runge in der Weimarer Republik zu 21 Monaten Haft verurteilt worden war sowie nach unmenschlichster Behandlung und einem Mordanschlag, »korrigierte« er im Januar 1920 sein »Geständnis« und erklärte sich nur noch zum Mittäter, in der Hoffnung, so schneller entlassen zu werden. Gefängnisbeamte spielten der USPD-Tageszeitung »Freiheit« jenes »Geständnis« zu, die es in wesentlichen Auszügen ein Jahr später veröffentlichte. Runge musste entlassen werden.
Doch alle seine anschließenden Versuche, mit den wirklichen Vorgängen vom 15. Januar 1919 an die Öffentlichkeit zu gehen, wurden von einem Netz aus Militär, Justiz und Psychiatrie plus Presse vereitelt. Deshalb wandte er sich in seiner Not am 8. Oktober 1929 an die »Rote Fahne«, das Zentralorgan der KPD, also der Partei, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1918 mitbegründet hatten. Daraufhin erhielt er von einem anonym gebliebenen Kommunisten Besuch, dem er seine Sicht auf die Dinge darlegte und der am 22. Oktober 1929 ein sechsseitiges Papier verfasste, das auf der ersten Seite den handschriftlichen Vermerk »W. Pieck« trägt: »Kurz danach führten der Oberleutnant Vogel und der Direktor des Eden-Hotels Rosa Luxemburg auf den Eingang zu. (…) Ich stieß sie dann mit dem Kolben auf die Schulter. Eine ernstliche Verletzung konnte sie keinesfalls davongetragen haben.« Doch die Redaktion der »Roten Fahne« wie auch das ZK der KPD zeigten an Runges Aussage kein Interesse.
Wilhelm Pieck hat sich im Januar 1919 sein Leben offensichtlich mit wertlosen Angaben erkauft; zumindest ist bis heute nicht bekannt geworden, dass er seinen Genossen geschadet hätte. Selbst 1928 gelang es in einem gegen ihn angestrengten Ehrengerichtsverfahren seinen innerparteilichen Gegnern nicht, ihn – anders als Jacob Walcher – aus der KPD auszuschließen.
Otto Runge hingegen blieb auf der Strecke. Es war alsbald nach der ruchlosen Tat vom 15. Januar dem Schreibtischtäter Waldemar Pabst, der den Befehl zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegeben hatte, Staatsanwalt Paul Jorns, der damals die wirklichen Mörder schützte, sowie dem Gerichtspsychiater Leppmann gelungen, den geistig unterbemittelten Unterfeldwebel zu bewegen, sich als Alleintäter zu bekennen. In Wirklichkeit hatte Runge mit der Ermordung von Karl Liebknecht überhaupt nichts zu tun; Rosa Luxemburg hatte er – nach der Drohung, selbst an die Wand gestellt zu werden – allenfalls an der Schulter verletzt, nicht aber ihr den Kopf eingeschlagen, wie von der Geschichtsschreibung über Jahrzehnte kolportiert. Die wahren Mörder wurden nie zur Verantwortung gezogen.
Ein ausführlicherer Text unseres Autors Dr. Jörn Schütrumpf nebst Dokumenten ist abrufbar unter: https://www.rosalux.de/publikation/id/51484
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