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Der Gazastreifen könnte unbewohnbar werden
Die Hilfsgüter reichen zur notdürftigen Versorgung mit Nahrung und Wasser, aber die hygienischen Verhältnisse führen zu Krankheiten
Der Winter geht auch am Nahen Osten nicht spurlos vorbei. Normalerweise berichtet man darüber in Europa nur dann, wenn Schnee Jerusalem in ein weißes Kleid hüllt. Doch seit drei Monaten herrscht im Gazastreifen Krieg. Und das Wetter ist mit dabei.
Mittlerweile gehen die Vereinten Nationen davon aus, dass so gut wie alle der 2,3 Millionen Menschen, die dort geschätzt vor Kriegsausbruch lebten, entweder auf der Fluch oder unmittelbar von den Auswirkungen der Fluchtbewegung betroffen sind. In den Wochen nach Kriegsbeginn Anfang Oktober hatte das israelische Militär gut eine Million Menschen im Norden des dicht besiedelten Landstrichs dazu aufgefordert, sich in den Süden zu begeben. Ursprünglich wollte man damit zivile Opfer der Bombardements und später der Bodenoffensive so gut es geht vermeiden und gleichzeitig möglichst großen Handlungsspielraum haben; ein »hilfloser Akt«, so ein Kommentator am Wochenende im öffentlich-rechtlichen israelischen Fernsehen.
Denn daraus entwickelte sich eine humanitäre Katastrophe, die nach Ansicht des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell »nicht schlimmer sein könnte«. Sehr oft wird die Lage im Gazastreifen auch als die schlimmste humanitäre Katastrophe überhaupt bezeichnet. Vergleiche, die niemanden wirklich weiterbrächten, sagt indes der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths: »Die Lage im Gazastreifen ist einzigartig, mit nichts vergleichbar. Deshalb können wir dort auch keine der Lehren aus anderen Ländern nutzen.«
Denn zunächst einmal ist das Gebiet sehr klein, mit 365 Quadratkilometern etwas kleiner als das frühere »Ost-Berlin«. Allerdings leben im Gazastreifen fast doppelt so viele Menschen. Und nun muss man sich vorstellen, dass sich eine Million Menschen vom einen Ende des Berliner Ostens ans andere Ende begeben. Hinzu kommt auch noch, dass nach Schätzungen der Uno schon vor dem Krieg ungefähr 60 Prozent der Häuser der reinen Lehre nach unbewohnbar waren. Vor dem Krieg waren auch nur noch 4,2 Prozent des Grundwassers trinkbar, denn die Kanalisation ist marode; Abwässer sickern vielerorts einfach in den Boden.
Seit Jahren schon warnten Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen immer wieder davor, dass dieser Landstrich in absehbarer Zeit unbewohnbar werden würde. Doch sie stießen auf taube Ohren. Ab und zu wurde das Thema auf Geberkonferenzen, bei der Arabischen Liga, in der Europäischen Union und anderswo angesprochen und auch in Israel wurde gewarnt, denn Umweltkatastrophen machen auch vor streng abgeschotteten Grenzen nicht halt. Ausgerechnet der rechte Likud-Politiker Jisrael Katz präsentierte sogar umfangreiche Pläne für einen umfangreichen Infrastruktur-Ausbau: Einen Seehafen, eine Sanierung der Infrastruktur und Wirtschaftsförderung stellte er sich unter anderem vor.
Aber Regierungschef Benjamin Netanjahu winkte ab und die internationale Gemeinschaft gab sich betont desinteressiert: Es hätte Geld gekostet. »Und die meisten westlichen Regierungen holen erst dann das Portemnonnaie raus, wenn die Dinge schon schief gegangen sind«, sagt ein Mitarbeiter des Welternährungsprogramms, der über die Jahre den Verlauf sogenannter Geberkonferenzen genau kennengelernt hat: Wieviel Geld zusammenkomme, richte sich nach der Zahl der Journalisten im Raum, glaubt er. Für die Versorgung der Menschen im Jemen, wo mehrere hunderttausend Menschen an Hunger, Krankheiten und Kriegshandlungen gestorben sind, kamen zuletzt stets nur noch Bruchteile der benötigten Gelder zusammen.
Im Gazastreifen haben die Versäumnisse der Vergangenheit nun zu etwas geführt, was Uno-Nothilfekoordinator Griffiths als »perfekten Sturm« bezeichnet: Es gibt keine durchlässige Grenze, kein Meer, über das die Menschen flüchten könnten. Die Hilfsgüter, die man über die viel zu schlecht ausgebauten Grenzübergänge einführen könne, reichten gerade so, um alle notdürftig mit Nahrungsmitteln und Wasser zu versorgen. Doch wofür man keine Lösung hat, sind die Feuchtigkeit, der Müll, den man nirgendwo loswerden kann. Und der sich deshalb mitten zwischen den Menschen und ihren notdürftigen Unterkünften sammelt. Die Folge: Krankheiten. Nach Uno-Angaben leiden viele Kinder unter Durchfall, zudem häufen sich Fälle von Hepatitis. Auch erste Cholera-Patienten wurden gemeldet. Das genaue Ausmaß lässt sich nicht zuverlässig ermitteln: Die meisten Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig; Laboratorien, in denen Krankheitserreger genau bestimmbar wären, gibt es nicht mehr.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu will den Krieg nach eigener Aussage trotzdem so lange fortsetzen, bis die Hamas zerstört sei. Oppositionsführer Benny Gantz, der im Oktober Teil des Kriegskabinetts wurde, ließ am Wochenende in den Medien streuen, er habe Zweifel. Zitiert werden Personen aus seinem Umfeld, die Netanjahu vorwerfen, er suche nicht einmal nach einer »Exit-Strategie«, also einem Plan für ein baldiges Kriegsende und die Zeit danach. Für Entsetzen sorgte auch, dass der Premier öffentlich auf Konfrontationskurs zu US-Präsident Joe Biden ging und einen palästinensischen Staat ausschloss. Dabei ist mittlerweile sogar im Likud die Ansicht weit verbreitet, dass der einzige Weg in eine sichere Zukunft über Perspektive für die Palästinenser verlaufe.
Doch auch die Führung der Hamas, die sich gerne als Stimme des palästinensischen Volks geriert, tut nichts, um den Krieg möglichst bald zu beenden: In den vergangenen Tagen schloss man Verhandlungen aus, meldete Maximalforderungen an. Nur wenn Israel abziehe, werde man alle Geiseln abziehen.
Deutlich frustriert sind nun die Diplomaten aus Katar und Ägypten, die sich seit drei Monaten bemühen, Verhandlungsergebnisse zu erzielen. »Die Leute von der Hamas glauben, dass sie gewinnen, weil der Krieg so lange dauert,«, sagt ein Mitarbeiter des katarischen Außenministeriums: »Dass wir überhaupt noch Ergebnisse erzielen können, wird immer unwahrscheinlicher.«
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