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»Mit den Opferzahlen wird viel Unfug angestellt«
Der Kriminologe Rafael Behr fordert einen sachlichen Umgang mit Gewalt bei Einsätzen der Polizei
Stimmt es, dass die Hemmschwelle, Polizisten anzugreifen, stetig gesunken ist, wie etwa NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) behauptet?
Das kann man so allgemein gar nicht feststellen. Was man seriös sagen kann, ist, dass uns des öfteren Situationen berichtet werden, in denen die sozialen Regeln des friedfertigen Miteinanders außer Kraft gesetzt werden. Wir können ebenfalls sicher sagen, dass keine lineare Entwicklung vorhanden ist. Es gibt keine Kontinuität in der Häufigkeit der Angriffe auf die Polizei. Da wird viel herbeigeredet. Es werden Zahlen miteinander verglichen, die man eigentlich nicht vergleichen kann. Zum Beispiel beim tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte (Paragraph 114 Strafgesetzbuch) nicht die Wirkung notwendig, sondern nur die Absicht. Also wird eine solche Tat auch gezählt, wenn gar kein Polizeibeamter verletzt worden ist, sondern lediglich die Absicht bestand, ihn oder sie zu verletzen. Mit den Opferzahlen bei der Polizei wird viel Unfug angestellt.
Die Tatbestände eines Angriffs auf Polizist*innen nach Paragraph 114 Strafgesetzbuch und des Widerstand gegen die Staatsgewalt (Paragraph 113) liegen also sehr niedrig?
Diese beiden Paragraphen lassen tatsächlich die Statistik in die Höhe schnellen. Bei genauerem Hinsehen ist es so, dass beim sogenannten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gar keine Gewalthandlung vorliegen muss, sondern lediglich eine Unbotmäßigkeit, wenn man sich zum Beispiel gegen eine Amtshandlung, etwa eine Festnahme, sperrt. Ist aktive Gewalt im Spiel, dann wird keine Widerstandsanzeige geschrieben, sondern eine wegen Körperverletzung. Anders beim Paragraph 114 (tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte). Hier werden Polizist*innen besser geschützt als andere Menschen. Für einen Tatbestand reichte es schon, wenn man beabsichtigt, eine*n Polizist*in zu treffen. Es kommt ausdrücklich nicht auf den Erfolg an. Also ist es weder beim Widerstand noch beim tätlichen Angriff unbedingt so, dass Polizeikräfte tatsächlich verletzt werden müssen.
Kommt es nicht auch vor, dass Polizeibeamte Angriffe auf sich provozieren?
Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg und lehrt dort Kriminologie und Soziologie. Er leitet die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit.
Wir müssen Gewalt durchaus als Interaktionsverhältnis begreifen, das heißt, es kann von vornherein nicht klar unterschieden werden zwischen Täter und Opfer, sondern man muss die gesamte Situation analysieren. Eskalationen passieren durch beidseitige aggressive Signale. Hier muss man sich sehr genau den Einzelfall anschauen, um zu entscheiden, wer letztlich mehr zur Eskalation des Konfliktes beigetragen hat.
Gibt es nicht eine Tendenz dazu, dass der Respekt gegenüber der Polizei abnimmt?
Da wird meines Erachtens sehr stark moralisch überhöht. Wenn zum Beispiel die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt, dass ein Angriff auf Polizeikräfte ein Angriff auf uns alle ist, dann wird das Thema symbolisch aufgeladen. Polizist*innen erscheinen dann als Helden, die Opfer für alle bringen. Ich halte die Heroisierung der Polizei für gefährlich und schädlich, denn sie mystifiziert die Arbeit der Polizei. Das Ansehen hat sich in der Geschichte sicher gewandelt. Carl Zuckmeyers »Hauptmann von Köpenick« konnte noch auf Respekt gegenüber einer Militäruniform vertrauen. Heutzutage müssen sich alle Polizeibeamten den Respekt konkret erarbeiten. Da kommt es sehr darauf an, wie respektvoll sie selbst mit dem Publikum umgehen.
Die Polizei wendet bei Einsätzen auch immer wieder Gewalt an. Wird manchmal nicht zu schnell der Knüppel oder die Pistole bei Einsätzen gezogen?
Generell kann ich das nicht bestätigen. Was man aber sagen kann, ist, dass es zunehmend objektive Beweismittel wie Smartphones gibt, die solche Szenen aufnehmen und dann möglicherweise die Darstellung der eingesetzten Polizeikräfte, wonach alle Gewalt vom Gegenüber ausgeht, anders erscheinen lassen. Aber wie oft es vorkommt, dass Polizeikräfte einen Einsatz so schildern, dass sie nur auf Gegengewalt reagiert haben, ohne selbst übergriffig geworden zu sein, können wir mangels Beweisen oft nicht überprüfen. Wir können aber sagen, dass es in letzter Zeit öfter vorgekommen ist, dass sich Schilderungen der Polizei durch das Auftauchen von Videos oder Telefonmitschnitten als falsch herausgestellt haben.
Im Sommer 2022 ist der Einsatz gegen Mouhamed Dramé in Dortmund aus dem Ruder gelaufen. Der 16-jährige Senegalese war suizidgefährdet und wurde bei einem martialischen Polizeieinsatz erschossen. Der Fall hat die Polizeiarbeit nicht nur in Nordrhein-Westfalen überschattet. Was ist aus Ihrer Sicht falsch gelaufen?
Falsch würde ich dazu nicht sagen. Es ist einfach so, dass Polizist*innen solche Situationen schnell und effektvoll beenden wollen. Und da überschlagen sich dann einzelne Maßnahmen und führen im Ergebnis zur Katastrophe. Ich finde, was den Weg für einen weniger gewaltvollen Verlauf versperrt hat, ist die Wahrnehmung der Einsatzkräfte, die bei dem Jugendlichen nur und ausschließlich die Gefahr gesehen haben und nicht die Not. Sie sind laut und schnell vorgegangen und hätten vielleicht mit weniger Tempo und Lautstärke mehr bewirkt.
Warum waren die Einsatzkräfte so martialisch bewaffnet.
Sie haben diese unselige Maschinenpistole mitgenommen, weil sie offenbar glaubten, sich mit ihr besser durchsetzen zu können. Die Logik der Polizei ist Überwältigung – alles andere steht dahinter zurück. Und diese Logik sorgt dafür, dass Polizist*innen vom Teil der Lösung zum Teil des Problems werden. Das zeigt sich schon in der Wortwahl im Protokoll: »Er drohte damit, sich das Leben zu nehmen« – die Einsatzkräfte fühlten sich tatsächlich bedroht. Sie haben nicht die Verzweiflung gesehen, den Hilferuf, sondern nur die gegen sie gerichtete Drohung. Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung.
Hätte der Todesschütze des jungen Senegalesen, dem bei Verurteilung der Beamtenstatus entzogen werden dürfte, nicht auf die Beine anstatt auf den Oberkörper und Kopf zielen können?
Das lässt sich in solchen Situationen nur von sehr geübten Schütz*innen bewerkstelligen. Das kann man aber von durchschnittlich trainierten Beamten des Wach- und Wechseldienstes nicht erwarten. Man könnte aber verhindern, dass sie zu solchen Einsätzen eine Maschinenpistole überhaupt mitnehmen. Aber weniger Waffen mitzunehmen, das traut sich im Moment niemand anzuordnen.
Das Innenministerium und die Gewerkschaft der Polizei haben sich für die Aufstockung der Trainings und Weiterbildungen im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen und für die Ausweitung von Bodycams ausgesprochen. Reicht das aus?
Das halte ich für eine Alibi-Ankündigung: Das Einsatztraining soll von fünf auf sieben Tage aufgestockt werden. Man lernt den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen und unter Stress nicht in zwei Tagen mehr Einsatztraining. Solange sich jedoch die Einsatzlogik der wirkungsvollen Überwältigung nicht ändert, hilft auch mehr Training nichts. Aber immerhin wird überhaupt etwas getan. Noch schlimmer ist es aber mit der Bodycam: Innenminister Herbert Reul verkauft uns da tatsächlich ein Stück Kohle für einen Diamanten.
Wie meinen Sie das?
Er hat vollmundig verkündet, dass nun Einsatzkräfte Bodycams tragen sollen – allerdings entscheiden die Beamten weiterhin selbst, ob und wann sie die Kameras einschalten. Solange nicht das Einschalten obligatorisch ist, nützt diese Anordnung gar nichts. In Dortmund waren ja genügend Bodycams am Einsatzort, aber sie blieben aus. Ich finde es grotesk, diese Anweisung als Lernerfolg zu verkaufen. Es ist aber gar nicht der Minister, der da ein falsches Spiel spielt, sondern die Gewerkschaften, die partout verhindern wollen, dass Polizeibeamte objektive Beweismittel für ihr Einsatzverhalten liefern. Sie dringen darauf, auch künftig nur dann die Kamera anzuschalten, wenn Polizist*innen angegriffen werden. Damit setzen die Gewerkschaften Einsatzkräfte aber weiterhin Situationen aus, in denen die Kameras aus sind und von denen sie glauben, dass sie die so rekonstruieren können, dass ihr Handeln richtig oder als Notwehr erscheint. Solche zweifelhafte Situationen könnten jedoch von vornherein vermieden werden, wenn die Polizist*innen wüssten, dass die Bodycams den Einsatz generell aufnehmen. Bodycams sollten eine Art Blackbox für Gewaltvorfälle sein. Und sie sollten nicht nur Polizisten schützen, sondern das Recht.
Sie sind Forscher. Welche Bereiche im Zusammenhang mit Gewalt von und gegen Polizist*innen erfordern weitere Forschung?
Man müsste noch viel mehr wissen über die Bedingungen des Zustandekommens von Gewalt von und an der Polizei. Dazu braucht man empirische Daten. Die bekommt man aber nicht durch Online-Befragungen etwa für die Megavo-Studie (Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten) und auch nicht dadurch, dass man Polizist*innen nur als Opfer von Gewalt sieht. Die Gewaltforschung könnte hier viel beisteuern, um Gewaltsituationen besser zu analysieren und um auch klug zu deeskalieren. Außerdem müsste man mehr über Einsatzmittel forschen, die nicht tödlich wirken. Ich werde immer ausgelacht, wenn ich für die Messerangriffe zum Beispiel Distanzstangen ins Spiel bringe. Dabei kann ich mir vorstellen, dass bei genügend Nachdruck auch andere nicht tödlich wirkende Instrumente für die Polizei gefunden werden könnten. Ich frage mich wirklich, warum das nicht stärker betrieben wird.
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