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Protest gegen Sozialkürzungen: "Tausende in Mitte betroffen"
Kürzungen in der Jugendsozialarbeit in Mitte sorgen für Proteste – Bezirk und Träger sehen den sozialen Frieden in Gefahr
Bei sozialen Trägern in Mitte geht die Angst um: Fast 100 Einrichtungen droht laut Brandbrief die Schließung. Am Dienstag wurde erneut protestiert, dieses Mal vor der Senatssitzung im Rathaus Friedrichshain-Kreuzberg. Was ist los?
Christoph Keller: Der aktuelle Haushalt legt fest, dass wir als Bezirk 13 Millionen Euro einsparen müssen. In meinem Bereich, Jugend, Familie und Gesundheit, fallen 2,7 Millionen weg. Vorgabe ist, dass die aus den sogenannten freiwilligen Leistungen gestrichen werden. Dabei trifft es »freiwillig« überhaupt nicht: Es geht um elementar wichtige Sozialarbeit in Schulen, Familienzentren und Jugendeinrichtungen. Hier ist jede Kürzung eine zu viel, gerade wenn man doch eigentlich Jugendgewalt eindämmen und Antisemitismusprävention betreiben will.
Christoph Keller (Linke) ist Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit im Bezirk Mitte.
Celiana Kiefer ist Leiterin vom Mädchen*zentrum für Empowerment und Feminismus Mädea der Stiftung SPI im Ortsteil Wedding sowie Sprecherin der AG Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit in Mitte.
Mit welchen Auswirkungen haben Kinder und Jugendliche im Bezirk zu rechnen?
Celiana Kiefer: Mit den Einrichtungen fallen notwendige Lernräume und wichtige Ansprechpersonen außerhalb der Familie für die Kinder weg. Wir bei Mädea beispielsweise bieten Mädchen und jungen Flinta (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen) aus dem Kiez einen Safe Space. Die Besucher*innen haben die Möglichkeit, bei Mädea ihre Hausaufgaben zu machen, zu kochen, zu essen. Besonders wichtig ist, dass wir über private, politische und berufliche Themen sprechen: Wie kann ich ein Praktikum finden? Welchen Beruf soll ich wählen? Viele unserer Besucherinnen haben diese Unterstützungsmöglichkeiten in ihrer Familie nicht. Es gibt junge Frauen, die kommen seit Jahren zu uns. Was wegfällt, das sind Rechte, die den Kindern und Jugendlichen gesetzlich zustehen.
Keller: Es gibt Einrichtungen, wo am Tag 60 Kinder und Jugendliche durchlaufen. Wenn man sie alle zusammenzählt, sind Tausende in Mitte betroffen – gerade in den Ortsteilen Wedding, Gesundbrunnen und Moabit.
Die Verträge der betroffenen Sozialarbeiter*innen laufen noch bis April, dann wäre Schluss. Was löst das bei den Beschäftigten aus?
Kiefer: Da ist zum einen Verunsicherung, zum anderen aber auch Wut. Das muss man sich mal vorstellen: Du investierst so viel Herzblut, Zeit und Arbeit in eine Einrichtung und dann das. Die emotionale Belastung ist hoch, zurzeit geht es mit den Jugendlichen beispielsweise oft um den Krieg in Nahost. Jetzt kannst du dir auch noch Gedanken darüber machen, ob du überhaupt noch an deinem Arbeitsplatz bleiben darfst. Es sind nicht wenige Fachkräfte, die befristete Arbeitsverträge haben.
Keller: Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Um die Fristen einzuhalten, müssen die Kündigungen schon zum Februar ausgesprochen werden. Im Grunde ist der Schaden längst angerichtet. Die Fachkräfte, die wir eigentlich so dringend brauchen, sehen sich jetzt schon an anderer Stelle um. Sie werden mit Kusshand genommen.
Kiefer: Generell erfährt die Soziale Arbeit ja nicht besonders viel Wertschätzung. Vieles ist befristet, projektabhängig und auf Honorarbasis. Außerdem gibt es massenweise Fachkräfte, die unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten. Ich habe ein Masterstudium abgeschlossen und mache gerade noch eine Ausbildung zur systemischen Beraterin. In meinem Portfolio stehen Kompetenzen, die überhaupt nicht bezahlt werden, aber in die Arbeit einfließen.
Wie sieht es mit den Sozialarbeiter*innen aus, die nicht gehen müssen? Droht Überlastung?
Keller: Die Einrichtungen sind schon jetzt auf Kante genäht. Auch nur eine Person herauszunehmen, bedeutet eine Mehrbelastung für den Rest. Durch das Jugendfördergesetz hat sich die Lage ein bisschen verbessert, aber eben noch lange nicht genug. Statt zu kürzen, müsste daran gearbeitet werden, den Bereich zu fördern.
Kiefer: Auch hier geht es zusätzlich um die emotionale Belastung. Der Austausch unter Kolleg*innen ist total wichtig, um zu entscheiden, wie man die Kinder und Jugendlichen adressieren soll. Schwere Themen lassen sich nur gemeinsam angehen.
Trifft Mitte selbst bei den Sparmaßnahmen nicht auch eine Schuld? Vorgaben des Senats hin oder her: Aus anderen Bezirken hat man bisher nichts von Massenschließungen in der Jugendarbeit gehört.
Keller: Mitte hat zwei Probleme, die andere Bezirke nicht haben: Bei Aufstellung des Haushalts hat die Finanzverwaltung unsere voraussichtlichen Einnahmen viel zu hoch eingestuft. Im Hauptausschuss wurde das dann als Haushaltsrisiko moniert, und jetzt müssen wir plötzlich 2 Millionen Euro mehr einsparen. Hinzu kommt die mit Schimmel befallene Anna-Lindh-Schule in Wedding, die uns 6 Millionen Euro Miete pro Jahr kostet.
Was erwartet der Bezirk denn vom schwarz-roten Senat?
Keller: Wir wollen nicht einmal mehr Geld, sondern einfach mehr Flexibilität, was die Einsparungsmöglichkeiten angeht. Es ist uns klar, dass auch im Jugendbereich wieder gekürzt werden muss, aber die Auswirkungen sind hier jedes Mal gravierend. Stattdessen sollte man überlegen, lieber bauliche Investitionen etwas weiter in die Zukunft zu schieben.
Das heißt, die Einrichtungen sollen bestehen bleiben, würden dafür aber zerfallen ...
Keller: Ganz so ist das nicht. Wir wollen natürlich auch nicht, dass Schulen und Sportstätten auseinanderfallen. Ich spreche von langfristigen, zum Teil noch nicht ausfinanzierten Projekten. Außerdem: Wenn wir jetzt in der Jugendarbeit kürzen, fallen auch noch Landesmittel vom Gipfel für Jugendgewalt weg. Das Geld brauchen wir dringend für genau solche Sanierungen.
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Was passiert, wenn der Senat den Hilferuf nicht erhört? Wie wird entschieden, welche Einrichtungen auf die Streichliste kommen und welche nicht?
Keller: Es gibt bestimmte Rahmenbedingungen. Zum Beispiel ist es schwieriger, Einrichtungen zu schließen, die kürzlich saniert wurden. Konkrete Standorte, die geschlossen würden, wollen wir noch nicht benennen. Die entsprechenden Kriterien würden wir dem Jugendhilfeausschuss vorlegen und mit ihm abstimmen – wenn alle anderen Einsparmöglichkeiten ausgeschöpft sind.
Kiefer: Ich hoffe, dass die Politik nicht vergisst, dass Kinder und Jugendliche die Wähler*innen von morgen sind und Fachkräfte die Wähler*innen von heute. Wenn man Versprechungen macht, sich für junge Menschen einzusetzen, dann muss man alle Hebel in Bewegung setzen, um das zu gewährleisten. Die Einrichtungen der Sozialen Arbeit dienen als Puffer für die Zukunft. Sie verringern Kosten, die ansonsten für Jugendämter, an Schulen oder auch im Gesundheitswesen entstehen, Stichwort Therapie. Ich rate allen Finanzexpert*innen, sich zumindest das durch den Kopf gehen zu lassen, wenn soziale Argumente schon nicht in Betracht gezogen werden.
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