Berliner Maßregelvollzug am Limit: »Das macht Menschen kaputt«

Der Berliner Maßregelvollzug beklagt seit Jahren Überlastung, von den Insassen spricht man jedoch kaum

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Überfüllt, veraltet und unterbesetzt: Seit Jahren werden Beschwerden über die Zustände im Berliner Maßregelvollzug laut. Im Januar wandte sich der Personalrat im Namen von 324 Mitarbeitenden an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und beklagte »extrem schwierige und gefährliche Arbeitsbedingungen«. Die Berliner Ärztekammer nahm den Brief zum Anlass, ebenfalls Alarm zu schlagen – zum wiederholten Male. Bereits im Januar 2023 hatte der Präsident Peter Bobbert nach einem Besuch im Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) von menschenunwürdiger Unterbringung und untragbaren Arbeitsbedingungen gesprochen.

Das KMV ist Gefängnis und Psychiatrie zugleich. Verurteilte Straftäter*innen, die ein Gericht aufgrund psychischer Probleme oder einer Suchterkrankung für nicht oder nur eingeschränkt schuldfähig erklärt, sollen dort eine adäquate Behandlung erhalten und zugleich an weiteren Straftaten gehindert werden. Besserung und Sicherung lauten die Stichworte, mit denen zuerst die Nationalsozialisten den Maßregelvollzug vom Strafvollzug unterschieden.

In Berlin gibt es zwei Standorte: Auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf und in der Klinik in Buch stehen insgesamt 549 Plätze zur Verfügung. Tatsächlich wohnen 626 Patient*innen in diesen Einrichtungen – eine Überbelegung um 14 Prozent. Dazu kommt ein eklatanter Personalmangel: Laut Senatsgesundheitsverwaltung waren zum Jahresende 2023 von 610 Planstellen nur 514 besetzt.

In den vergangenen Jahren kam es deshalb vor, dass Verurteilte den angeordneten Maßregelvollzug nur mit Verspätung antreten konnten und Angeklagte wegen Platzmangels aus der sogenannten Übergangshaft im KMV entlassen werden mussten. Zugleich sorgte ein spektakulärer Ausbruch eines Mitglieds der organisierten Kriminalität für Schlagzeilen.

Das rief vor allem Rechte auf den Plan: So forderte am Dienstag die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) mehr finanzielle Mittel für Personal und Platzausbau, um Recht und Ordnung wieder herzustellen. Zugleich behauptet sie, Straftäter*innen ließen sich eine »Fake-Sucht« attestieren, um »nicht im deutlich strenger regulierten allgemeinen Strafvollzug« zu landen.

»Das ist Quatsch und der Versuch von politisch rechter Seite, den Maßregelvollzug als Kuschelvollzug zu labeln«, sagt Sebastian Schlüsselburg, justizpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Das Gegenteil sei der Fall: Im Maßregelvollzug ließen sich Grundrechtsverstöße wie zum Beispiel unverhältnismäßige Fixierungen schwieriger als im Gefängnis feststellen, weil das System einer Blackbox gleiche. Diese ohnehin heikle Ausgangslage werde durch Personalmangel und Überbelegung verschärft. »Wenn viel Arbeit auf wenigen Schultern lastet, kann es schon sein, dass ein Mitarbeiter aus dem Affekt heraus unverhältnismäßigen Zwang anwendet«, so Schlüsselburg.

Dazu kommt laut Berliner Ärztekammer die prekäre Unterbringung, wenn sich Patient*innen teils zu viert ein Zweibettzimmer teilen müssten. Das gefährde eine »sinnvolle medizinischer Therapie«, so Peter Bobbert zu »nd«. Zudem führe die Enge bei den sowieso schon psychisch belasteten Patient*innen, die durchschnittlich für acht Jahre in der Einrichtung bleiben, zu großem Stress.

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»Das macht Menschen kaputt«, sagt Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft zu »nd«. Insassen würde ihm regelmäßig von Machtmissbrauch berichten, etwa vom Kampf darum, ihre Post zu erhalten oder Wäsche waschen zu dürfen. »Man kann nicht wie im Gefängnis sagen: Ich reiche eine Beschwerde vor Gericht ein. Wenn man sich beschwert, kann der Arzt sagen: Den Querulanten stufe ich bei der nächsten Diagnose wieder schlechter ein.« Er wisse von Menschen, die sich nach ihrer Zeit im Vollzug das Leben genommen hätten, sagt Matzke.

Um die Zustände im Berliner Maßregelvollzug zu verbessern, hat die Gesundheitsverwaltung die Mittel von 67,7 Millionen Euro im Jahr 2023 auf 83,3 Millionen Euro 2024 und auf 89,2 Millionen Euro 2025 erhöht. Davon stehen 53,3 Millionen Euro für die Sanierung eines Hauses auf dem Gelände in Reinickendorf bereit. »Da ist ganz entscheidend, dass das nicht den Sparvorgaben zum Opfer fällt«, sagt Tobias Schulze, gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion zu »nd«. Er fordert zudem schnelle Maßnahmen, um Personal zu gewinnen: »Man muss die Zulagenregelung ausreizen und eine Werbekampagne für den KMV machen.«

Dass der Berliner Maßregelvollzug derart heruntergewirtschaftet wurde, wundert Matzke nicht. »Damit gewinnt man keinen Wahlkampf. Wir haben keine Lobby und für die Thematik Maßregel gibt es noch weniger öffentliches Interesse als für den Strafvollzug.« Natürlich brauche es mehr Geld, Personal und bessere Unterbringungsbedingungen. Doch eigentlich plädiert Matzke für die komplette Abschaffung des Maßregelvollzuges. »Da bin ich durch und durch Abolitionist.«

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