- Kultur
- Oper
Ein fast sympathischer Königstrottel
Barrie Kosky inszeniert Rimski-Korsakows »Der goldene Hahn« an der Komischen Oper Berlin
Die tragische Bühnenfigur schlechthin ist der König, und dies nicht, weil er unbedingt ein wertvollerer Mensch wäre. Doch weil er weit oben steht, kann er umso tiefer fallen. Vor allem: Weil er mächtig ist, kann und muss er Entscheidungen treffen. Das gilt fürs Drama, und es gilt auch fürs Musiktheater.
Der König Dodon freilich, Hauptfigur von Nikolai Rimski-Korsakows letzter Oper, steht nur noch für Macht im Stadium äußersten Verfalls. Schon beim ersten Auftritt jammert er: Früher zwar hat er gerne andere Länder überfallen. Jetzt, wo er er nur noch schlafen will, lassen ihm aber die feindlichen Heere keine Ruhe. Seine beiden Söhne geben dumme Ratschläge; wenn sie sich später auf dem Schlachtfeld gegenseitig abstechen, empfindet nicht einmal ihr Vater viel Bedauern. Er lässt sich lieber von einer orientalischen Königin bezirzen. Sie gibt sich keinerlei Mühe zu verbergen, dass ihr Interesse nicht dem plumpen Alten gilt, sondern der Macht.
Rimski-Korsakow komponierte die Oper nach der russischen Revolution von 1905, die zwar gescheitert war, aber das Zarentum geschwächt hatte. Da er selbst sich auf keinerlei Kompromisse mit der Zensur einließ, kam es erst 1909, im Jahr nach seinem Tod, zu einer gekürzten Uraufführung. Vollständig war das Werk dann 1914 in Paris zu hören. Der Text entzieht dem Genre den Boden: Das Heer singt davon, dass es den Feind lieber aus sicherer Entfernung beschießt. Wenn am Ende der König tot ist, ist die vorgeschriebene Trauer arg distanziert. Auf der anderen Seite gibt es orientalisierende Klänge, die in der russischen Musik des 19. Jahrhunderts für das Fremde und für Erotik standen. Hier aber ist der Exotismus nur Kalkül, und die sinnliche, fremde Herrscherin ist nicht nur schöner, sondern vor allem schlauer.
Es handelt sich um eine Oper fast ohne Sympathieträger. Doch warum der Titel? Weil es märchenhafte Elemente gibt. Ein Astrologe, dem Königtum ergeben, überlässt Dodon einen goldenen Hahn, der anzeigt, ob der Herrscher ruhig schlafen kann oder kämpfen muss. Später tötet der König den treuen Untertanen, und der Hahn übt dafür Rache. Das kann man politisch interpretieren: Die Verbindung von Mythos und Herrschaft zerbricht. Aber es zielt auch auf Bühnenwirksamkeit; in mehreren Opern hatte Rimski-Korsakow Märchenmotive effektvoll eingesetzt.
Derlei Schauwerte sind gefundenes Fressen für einen Regisseur wie Barrie Kosky, und wieder einmal kann man ihm bescheinigen, an der Komischen Oper in Berlin eine bunt-unterhaltsame Arbeit abgeliefert zu haben. Immerhin zu loben ist, dass er auf Aktualisierungen verzichtet und wir keinen Putin sehen müssen, der schließlich am Ende eines sehr langen Tisches vom goldenen Hahn zerhackt wird. Fragwürdig dagegen ist die Entscheidung, das Geschehen als Dodons Traum zu inszenieren. Wo nicht bewusst gehandelt wird, gibt es keinen zielgerichteten Verlauf, keine Entscheidung, damit keine Verantwortung. Man sieht diese Idee heutzutage öfter auf der Bühne, und man kann sagen, dass sie einer Gesellschaft im Niedergang entspricht, wo niemand es gewesen sein will. Doch wäre gerade da nach Verantwortung zu fragen.
Sich in den Traum zu begeben, macht aus politischen Konflikten lediglich individuelle Obsessionen. Dies zeigt sich am deutlichsten beim Höhepunkt der Verführungsszene. Die orientalische Königin befiehlt Dodon, ihr vorzutanzen, wohlwissend, wie peinlich der Anblick sein wird. Man sieht nicht mehr als eine individuelle Sado-Maso-Story. Und muss überhaupt der König von Beginn an in befleckter Unterwäsche auftreten? Das Argument ist dramaturgisch: Wer niedrig ansetzt, kann nicht mehr fallen.
Sieht man von diesen grundsätzlichen Einwänden ab und auch von manchem überflüssigen Klamauk (Dodons Heer mit Strapsen), so bleiben doch viele gelungene, oft schwarzhumorige Details. Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus zeigt einfach einen Feldweg mit hohen Gräsern und einem kahlen Baum, auf dem der Hahn seinen Platz nehmen wird und an dem dekorativ die toten Königssöhne hängen werden. Das ist eine einfache Lösung, die sich als vielfältig einsetzbar erweist und dank der Lichtregie von Franck Evin auch vielfältige, an der Musik orientierte Stimmungen vermittelt.
Das Orchester der Komischen Oper unter James Gaffigan verdeutlicht, weshalb Rimski-Korsakow als Instrumentator Vorbild vieler Komponisten bis hin zu Strawinsky wurde. Dabei gelingen die wuchtigen Stellen besser als die orientialisierend-einschmeichelnden – möglicherweise der Akustik im Schillertheater geschuldet, dem Ausweichquartier, solange die Komische Oper renoviert wird. Vielleicht aber ist dies auch Konzept. Kseniia Proshina gibt der Königin von Schemachar eine sehr zurückgenommene Sinnlichkeit. So sehr viel davon ist bei dem Trottel Dodon, der ihr sofort verfällt, auch gar nicht nötig. Klare Artikulation, strahlende Töne, dabei kaum Weiches: Jeder, außer dem Verliebten, merkt sofort, dass es um Macht geht.
Anker der Inszenierung ist freilich Dmitry Ulyanov als verkommener König. Er ist in den gut zwei Stunden ohne Pause, die diese Aufführung dauert, fast stets auf der Bühne. Für Momente wird diese wüst-verkommene Figur beinahe sympathisch. Solange er träge ist, führt er wenigstens nicht Krieg. Er redet schamlos daher, aber man kann es ehrlich nennen. Ulyanov findet für all dies stimmliche Facetten, zudem ist er ein begnadeter Sänger-Schauspieler. So spielt sich der äußere Konflikt, vom dem der Regisseur nichts wissen mag, als Kampf Dodons gegen Dodon ab. Das bleibt inhaltlich eine Schrumpfform des Werks, ist aber musiktheatralisch wirksam; darum großer Premierenjubel.
Nächste Vorstellungen: 7.2., 2.3., 7.3. Komische Oper, Berlin
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.