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Wahlwiederholung in Pankow: Ein Arschtritt für die Ampel
Am Sonntag wird in Teilen von Berlin die Bundestagswahl des Jahres 2021 wiederholt – im Bezirk Pankow in 85 Prozent der Wahlbezirke
Das originale Gemälde von Leonardo da Vinci ziert die Wand eines Klosters in Mailand. In der Galerie am Berliner Pfefferberg hängt das berühmte »Letzte Abendmahl« nachempfunden mit winzigen Legosteinchen unterschiedlicher Farben. Der frühere Bundestagsabgeordnete Klaus Mindrup (SPD) schaut sich das fasziniert an. Es ist ein Höhepunkt einer Führung über das Gelände. Klaus Mindrup und Stefan Hoffschröer, Geschäftsführer der gemeinnützigen Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH, erklären SPD-Bundestagsfraktionsvize Matthias Miersch, was es hier so gibt: ein Restaurant, ein Theater, und eine Erzieherfachschule etwa, Werkstätten, Ateliers. Mindrup blickt sich um und strahlt. »Was Herrliches entstehen kann, wenn der kapitalistische Verwertungsdruck rausgenommen wird«, schwärmt er.
Die Sozialdemokraten haben sich angepasst und sagen so etwas heute selten bis nie. Aber Mindrup sagt es oft und meint das ernst. Er würde gern einige Dinge geraderücken, die gewaltig schieflaufen. Am 11. Februar könnte er seine zweite Chance nutzen, wieder in den Bundestag einzuziehen. Denn die Bundestagswahl vom 26. September 2021 wird wegen erheblicher Pannen diesen Sonntag in 455 von 2256 Berliner Wahlbezirken wiederholt. Von rund 235 000 Wahlberechtigten im Wahlkreis Pankow dürfen gut 200 000 ihre Stimme noch einmal abgeben und sich anders entscheiden als vor knapp zweieinhalb Jahren.
Damals gewann Stefan Gelbhaar (Grüne) mit 25,5 Prozent. Klaus Mindrup landete bei 21,5 Prozent und Udo Wolf (Linke) bei 16,2 Prozent. Bei den drei Bundestagswahlen zuvor hatte Stefan Liebich (Linke) den Wahlkreis gewonnen. Man musste deshalb 2021 Udo Wolf noch zu den Favoriten zählen. Das ist nun anders. Jeder kann sehen, dass Wolf damals keine Chance hatte und auch heute keine hat. Dazu kommt, dass der 61-Jährige zwar auf den Stimmzetteln steht, aber krank ist und keinen Wahlkampf machen kann. »Wir haben uns für einen Zweitstimmenwahlkampf entschieden«, erklärt die Linke-Bezirksvorsitzende Sandra Brunner.
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Mindrup hofft, dass er diesmal die Erststimmen von Menschen erhält, die 2021 noch Wolf oder Gelbhaar gewählt haben. »Ich bin durch und durch Sozialdemokrat«, versichert Mindrup zwar. Er weiß aber: »Andere finden das nicht.« Seine Sympathien für linke und grüne Ideen könnten ihm jetzt helfen. »Dass möblierte Wohnungen für 62 Euro je Quadratmeter angeboten werden dürfen, das ist doch toxisch für den Rechtsstaat. Das muss man regulieren«, findet der Kandidat. Er hat ganz bewusst kein Auto mehr, fährt Bus und Bahn und arbeitet als Sachverständiger zum Thema bezahlbare erneuerbare Energie. Außerdem ist Mindrup für eine Denkfabrik in der US-Hauptstadt Washington tätig.
Eine Art Denkfabrik ist auch das in einem hypermodernen Neubau auf dem Pfefferberg-Areal angesiedelte Architektenbüro von Justus Pysall. Oben auf dem Dach sitzt Pysall, hinter sich eine herrliche Aussicht auf die Stadt – der Blick geht bis zur Glaskuppel auf dem Reichstag –, vor sich Klaus Mindrup und SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch. Die beiden Sozialdemokraten lassen sich von Pysall für drei mögliche Modellprojekte für Geothermie in der Hauptstadt begeistern. Der Pfefferberg selbst, die Universitätsklinik Charité samt Bundeswirtschaftsministerium und das alte Diesterweg-Gymnasium kämen dafür infrage. Pysall möchte mit den Modellprojekten zeigen: »Es geht. Wir brauchen keine Angst zu haben. Es wird uns nicht schlechter gehen mit der Umstellung auf erneuerbare Energien.« Politiker Miersch zaudert nicht. Er lässt sich die Pläne per E-Mail schicken und will sie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorlegen. Auch Mindrup brennt für die Idee. Er erwägt für ein Objekt seiner alternativen Selbstbaugenossenschaft, die Kastanienallee 12, Erdwärme nutzbar zu machen. Dort könnten die Bohrungen auf dem begrünten letzten Hinterhof erfolgen, für das Pfefferwerk-Areal böte sich der benachbarte Spielplatz an. Bohrungen in Kellern sind technisch möglich, aber weniger effektiv. Bohrungen für die Geothermie im öffentlichen Straßenland sind allerdings verboten. Das möchte Mindrup ändern.
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»Neuanfang wählen«, hat er plakatiert. Das überrascht, denn seine eigene Partei regiert ja in Deutschland. 2021 folgte auf 16 Jahre CDU-Kanzlerin Angela Merkel der SPD-Politiker Olaf Scholz, der mit den Grünen und der FDP koaliert. Mit großen Versprechungen trat die Ampel an. Mittlerweile macht sich Ernüchterung breit. Mindrup will für frischen Schwung sorgen. Das verspricht er bei einem Kiezspaziergang zur Wohnungsbaugenossenschaft Bremer Höhe, wo er früher wohnte. In einem Bistro um die Ecke sagt Mindrup bei einer Tasse Milchkaffee: »In meinen Themenfeldern bräuchte die Ampel einen gewissen Impuls.« Er formuliert es so, als habe er eigentlich sagen wollen, »einen Arschtritt«. Darauf angesprochen, schmunzelt der 59-Jährige und betont: »Habe ich aber nicht!«
50 zu 50 stünden seine Chancen, Gelbhaar den Wahlkreis abzujagen, schätzt Mindrup ein. Das sieht Gelbhaar anders. »Die Chancen von Klaus Mindrup sind überschaubar«, dämpft er dessen Erwartungen. Gelbhaar ist über die Landesliste der Grünen abgesichert. Verliert er den Wahlkreis, wäre er trotzdem im Bundestag. Aber seine Parteifreundin Nina Stahr könnte hinten runterfallen. Sie ist im Moment übergangsweise wieder Landesvorsitzende, um den Landesverband aus einer Krise zu holen. Würde sie ihren Sitz im Bundestag verlieren, könnte sie länger als gedacht auf diesem Posten bleiben. Gelbhaar würde das begrüßen. Er hält Stahr für die beste mögliche Parteichefin.
Dennoch möchte der 47-Jährige seinen Wahlkreis verteidigen, schon aus symbolischen Gründen. Der Wahlkreis Pankow liegt komplett in Ostberlin und war damit 2021 der erste und einzige rein ostdeutsche Bundestagswahlkreis, den die Grünen jemals gewinnen konnten. Sie investieren viel Kraft, um diese Position zu halten. »Wir machen jetzt mehr Infostände als alle anderen, deutlich mehr«, erklärt Gelbhaar. Er ist gerade an einem solchen Stand zu finden, rundum sein Porträtfoto auf insgesamt 14 Aufstellern und Wahlplakaten. Hier am S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee postieren sich die Grünen im Verlauf des Wahlkampfes ein ums andere Mal. Laut Gelbhaar erfahren sie so viel Zuspruch wie noch nie. »Es ist gut, dass ihr da steht«, werde den Parteifreunden immer wieder zugerufen. Gelbhaar erklärt sich das mit den derzeitigen Demonstrationen gegen rechts. Es werde positiv aufgenommen, dass sich die Grünen nicht verstecken.
Die Grünen anzukreuzen, wäre ein Zeichen gegen die rückwärtsgewandte Verkehrspolitik der CDU und für das 49-Euro-Ticket, ein »astreines Sozialprojekt«, wie Gelbhaar sagt. Ob er mit der Ampel zufrieden ist? Der Abgeordnete verzieht nur das Gesicht. Und mit der Performance der Grünen? Dazu sagt Gelbhaar, dass alle seine Fraktionskollegen sehr bemüht seien, das Bestmögliche herauszuholen.
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