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Film »Die Unsichtbaren«: Im Paviankäfig

Der Dokumentarfilm »Die Unsichtbaren« rekonstruiert, wie Marianne Atzeroth-Freier auf eigene Faust die sogenannten Säurefassmorde aufklärte

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Beweisstücke? Marianne Atzeroth-Freier musste sich mit viel Geduld an die Aufklärung der Fälle heranarbeiten.
Beweisstücke? Marianne Atzeroth-Freier musste sich mit viel Geduld an die Aufklärung der Fälle heranarbeiten.

Marianne Atzeroth-Freier arbeitet in einem schlimmen Paviankäfig, der Hamburger Mordkommission. Sie ist in Deutschland in den 80er Jahren eine der ersten Frauen in diesem Berufsfeld – und auf der männlich dominierten Wache geht es roh zu. Als die Kommissarin dem Verdacht nachgeht, dass eine Vermisstenmeldung sich als Mordfall entpuppen könnte, stößt sie bei den Kollegen auf Brett-vor-dem-Kopf-harte Ignoranz. Wo keine Leichen sind, hat die Mordkommission auch nichts zu suchen, sind sie überzeugt. Später kommt raus, dass der Mörder, den Atzeroth-Freier hier im Blick hat, Lutz Reinstrom, von einem mit ihm befreundeten Polizisten gedeckt wurde, wenn auch unwissentlich.

Es braucht Eigeninitiative, Aktenwälzen nach Dienstschluss und einen neuen jungen Kollegen, der um einiges weniger bescheuert ist als die älteren Semester, um den Fall auf den Weg zu bringen. Am Ende hat Atzeroth-Freier federführend dafür gesorgt, dass Reinstrom, der sogenannte Säurefassmörder von Hamburg, gefasst und 1996 zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Reinstrom hat zwei, wahrscheinlich drei Frauen in dem Bunker unter seinem Grundstück zu Tode gefoltert und die Leichenteile dann in Säurefässern auf seiner Parzelle vergraben.

Der Regisseur Matthias Freier hat mit »Die Unsichtbaren« einen Dokumentarfilm über das Wirken seiner 2017 verstorbenen Stiefmutter bei der Hamburger Polizei gedreht, mit fast ausschließlichem Fokus auf den Reinstrom-Fall. Der Film funktioniert auf verschiedenen Ebenen: als Rekonstruktion der Ermittlungsmethoden einer Mordkommission Anfang der 90er Jahre, als Untersuchung eines von Männern beherrschten Berufsfelds und als Hommage an eine Ermittlerin, die neben vielen anderen Fähigkeiten wie deduktivem Denken und Beharrlichkeit ihren Kollegen vor allem die Empathie mit den Opfern voraushat.

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Letzteres mag in dieser Zusammenfassung vielleicht etwas schematisch und idealisierend klingen, aber es war wohl tatsächlich so einfach. In der Mordkommission ein patriarchaler Abwehrkampf in konzentrierter Form, mit allem, was dazugehört: Unfähigkeit, Frauen (Ermittlerinnen wie Opfern) einfach mal zuzuhören, althergebrachte Hierarchien, die entsprechende Dysfunktionalitäten mit sich bringen, und am Ende die sehr dreiste Aneignung des Erfolgs von anderen. Öffentlich hat Marianne Atzeroth-Freier zu Lebzeiten keine Würdigung ihres Ermittlungserfolges erfahren, im Gegensatz zum Leiter der Mordkommission.

Die 2023 erschienene Amazon-Prime-Serie »Gefesselt« hatte den Fall in eine vergleichsweise reißerische Form gebracht. Der Schwerpunkt lag auf dem Mörder und vor allem auf dessen Sexualpathologie. In »Die Unsichtbaren« ist Reinstrom nur einmal zu hören, auf einer Tonaufnahme, in »Gefesselt« redet er eigentlich ununterbrochen, die Serie ist geradezu berauscht von der von ihm ausgeübten Gewalt – eine stets lauernde Gefahr des True-Crime-Genres. Freiers Film hingegen besticht durch Nüchternheit: von Täterfaszination ist hier nichts zu spüren, der Film erzählt vor allem eine Institutionengeschichte, und davon, wie diese Institutionen sich verändern, was sich auch in den Biografien der einzelnen Akteurinnen und Akteure niederschlägt. Nüchternheit heißt hier auch, dass »Die Unsichtbaren« jede Form von Spannungsaufbau vermeidet. Die Zerstückelung von zwei Frauen soll hier nicht entertaining sein. Man kann Matthias Freiers Film, das wäre dann eine weitere Ebene, auch als implizite Kritik am eigenen Genre verstehen.

Die »Die Unsichtbaren« ist formal nicht sonderlich aufregend – Talking-Heads-Interviews, dokumentarisches Material und etwas lahm inszenierte Spielszenen –, aber dennoch sehr sehenswert. Nicht zuletzt, weil der Film zwei verschiedene Ermittlungsmethoden montiert und damit auch zwei unterschiedliche Blicke auf die Welt sichtbar macht. Der eine beharrt auf einem »Das haben wir immer schon so gemacht« und der Macht, die damit verbunden ist. Der andere geht von dem aus, was er vorfindet, und versteht das unmittelbare Betroffensein der Opfer nicht als Manko und ihr Reden nicht als Störgeräusch, sondern sieht darin das Potenzial zur Erkenntnis.

»Die Unsichtbaren«, Deutschland 2023. Regie: Matthias Freier. Mit Marianne Atzeroth-Freier, Cornelia Uetrecht, Elke Lorenz, Constanze Andree, Claudia Harrbrücker. 98 Min. Jetzt im Kino.

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